Abseits der Routen

Teil 16: Madrid
oder Das eineinhalb Autostunden entfernte Städtchen Sigüenza

Wer Madrid besucht, sollte auch über die Stadtmauern blicken. Denn gerade einmal 130 Kilometer entfernt, zeigt sich ein kleiner Ort, der noch unter dem Radar der meisten Reisenden liegt. Was man dort findet? Eine sehr gut erhaltene Altstadt und herausragende Gastronomie, weshalb Hans-Peter Siebenhaar am Ende seines Artikels drei Restauranttipps gibt.


Metall trifft auf Metall. Die harten Klänge des Stahls erfüllen den Innenhof der Burg am frühen Sonntagmorgen. Die meisten Gäste des mächtigen Kastells über den kastilischen Städtchen Sigüenza dösen an diesen heißen Sommertag noch in ihren Betten. Doch unter ihren Fenstern erprobt eine Handvoll Männer den mittelalterlichen Kampf. Während sie ihre Schwerter kreuzen, zucken die Lichtreflexe über die gewaltigen Burgmauern.
Der sportliche Auftakt ist kein Zufall. Denn in Sigüenza, einem 4500 Einwohner großen Ort in der zentralspanischen Hochebene (= Meseta) ist das Mittelalter noch lebendig.


Rund 1000 Meter über dem Meeresspiegel

Kaum ein anderer Ort in der Umgebung von Madrid hat so ein reiches kulturelles Erbe von der Romanik bis zum Barock. Sigüenza, nur eineinhalb Autostunden nordöstlich der spanischen Hauptstadt, zieht viele Madrilenen an. Sie verbinden einen Ausflug in der Geschichte Kastiliens mit den angenehmen Temperaturen der Meseta. Denn Sigüenza liegt auf rund 1000 Metern über dem Meeresspiegel. Das sorgt selbst im Sommer für angenehm kühle Nächte. Nur selten lässt es sich beim Abendessen auf einen Pullover oder eine Jacke verzichten. Das schätzen die von der Hitze geplagten Madrilenen!
Das Castillo auf einen Berg ist selbst für kastilische Verhältnisse außergewöhnlich groß. Seit Jahrzehnten dient es als Parador (= staatliche Hotelkette). Auch wenn das Haus einen Renovierungsstau und seine besten Jahre offenbar hinter sich hat, ist es noch immer der Anziehungspunkt des Städtchens. Ab und zu sind im Parador von Sigüenza auch Autoren zu Gast wie beispielsweise der spanische Schriftsteller Javier Marías (»Mein Herz so weiß«).


Ein von Reisenden oft unterschätztes Städtchen

Das Rathaus eines oft unterschätzten Städtchens (Foto: Hans-Peter Siebenhaar)
Das Rathaus eines oft unterschätzten Städtchens (Foto: Hans-Peter Siebenhaar)

Besucher kann das Städtchen der kastilischen Provinz Guadalajara übrigens gut gebrauchen. In der Altstadt mit seiner mächtigen Kathedrale unterhalb der Burg hängen an den Hausfassaden viele Schilder mit der Aufschrift »se vende«, die Häuser und Wohnungen stehen zum Verkauf. Denn Arbeitsplätze sind rar gesät. Die nahe Metropole Madrid wirkt wie ein Magnet für die Jungen und Gutausgebildeten. Sigüenza droht die Überalterung.
Doch am Wochenende kehrt wieder Leben ein. Frühere Einwohner, die in Madrid ihren Lebensunterhalt verdienen, verbringen das Wochenende in dem verwinkelten Ort im Tal des Flusses Henares. Aber auch viele Madrilenen schätzen die Schönheit von Sigüenza, das von ausländischen Besuchern noch immer links liegen gelassen wird. Vollkommen zu Unrecht, aber vielleicht auch zum Glück. Schließlich lockt Sigüenza nicht nur mit viel Geschichte, sondern auch mit exzellenter Gastronomie. Gleich zwei Restaurants mit einem Michelin-Stern ziehen Feinschmecker aus der Hauptstadt an.
Doch auch ohne Sterne lässt es sich in Sigüenza hervorragend speisen! Die Bars mit ihren Tapas – von Patatas bravas (= knusprig gebackene Kartoffeln) über Ensaladilla rusa (= russischer Kartoffelsalat) bis hin zu Pulpo (= Tintenfisch) und Jamón ibérico (= iberischer Schinken) – an der malerischen Alameda vereinen jeden Abend nicht nur die Einheimischen.
Noch heute spielt die Landwirtschaft in den fruchtbaren Tälern des Rio Henares und des benachbarten Rio Dulce eine wichtige Rolle. In der Meseta weiden Schafherden. Die Koteletts des Milchlamms gelten bei den Madrilenen als Delikatesse und stehen daher auf fast jeder Speisekarte.


Eine vollständig erhaltene Altstadt

Die Einschusslöcher am Kathedralenturm stammen noch aus dem Spanischen Bürgerkrieg (Foto: Hans-Peter Siebenhaar)
Die Einschusslöcher am Kathedralenturm stammen noch aus dem Spanischen Bürgerkrieg (Foto: Hans-Peter Siebenhaar)

Wer durch die vollständig erhaltene Altstadt von Sigüenza schlendert, wird sich dem Charme des Ausflugsziels nicht entziehen können. Das Städtchen ist erstmals im 1. Jahrhundert nach Christus erwähnt, von Plinius dem Älteren. Bereits im 6. Jahrhundert wurde das Bistum Sigüenza gegründet. Nach der Vertreibung der Mauren begann der Bau der mächtigen Kathedrale, die viele Bauepochen in ihrer langen Geschichte vereinigt.
Der Spanische Bürgerkrieg forderte in Sigüenza viele Tote. Die Einschusslöcher kann man noch heute rund um die schlitzartigen Öffnungen des Turmes der Kathedrale erkennen.


Essenstipps:

Restaurant Nöla, innovative, kastilische Küche mit einem exzellenten Preis-Leistungsverhältnis. Das Restaurant des herausragenden Kochs Jorge Maestro, der im Baskenland bei berühmten Küchenmeistern das Handwerk gelernt hat, befindet sich im gotischen Wohnhaus – Casa del Doncel. Das Haus besitzt einen wunderschönen Innenhof für laue Sommerabende. Seine Frau Maria sorgt für den sehr guten Service. Reservierung empfehlenswert. Plaza San Vicente. www.nolarestaurante.com

Restaurant El Molino de Alcuneza, in einer ehemaligen Mühle im Nachbarort Alcuneza am Fluss Henares bietet das abgeschiedene Vier-Sterne-Hotel ein außergewöhnliches Feinschmeckerlokal. Raffinierte Menüs des Sternerestaurants kosten zwar 55 Euro. Genussfreudige Madrilenen machen aber für die feine Küche des familiären Lokals gerne einen Umweg. Das versteckt liegende Hotel ist übrigens die einzige Herberge von Sigüenza mit einem Pool. Reservierung notwendig. www.molinodealcuneza.com

Bar Alameda, in der schmalen Bar am Hauptplatz unterhalb der Altstadt treffen sich die Einheimischen zum Schlemmen. Ein paar dutzend »pinchos« (= kleine Gerichte) locken an der langen Theke, an der am Abend kaum ein Platz zu finden ist. Die Vielfalt und die Qualität der Tapas haben sich sogar bis Madrid herumgesprochen. Hier geht es laut, eng und familiär zu. Feine, frische Tapas bereits ab 4,50 Euro. Paseo de la Alameda 4.

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