Dass Metropolen im Wandel sind, ist eine Binsenweisheit. Doch in Marseille erlebt man diese Erneuerung gerade hautnah mit. Zumindest dann, wenn man die allzu touristischen Zentren verlässt und durchs einstige Arbeiterviertel Belle de Mai schlendert. Ralf Nestmeyer, der kürzlich einen Band zu Marseille geschrieben hat, ist einem Hotspot der alternativen Szene nachgegangen.
Marseille ist eine Stadt im Wandel, vibrierend und lebendig. Spürbar ist diese Stimmung weniger am touristischen Alten Hafen (»Vieux Port«) als vielmehr rund um den Straßenzug Cours Julien im ehemaligen Arbeiterviertel Belle de Mai. Das abseits der großen Touristikrouten gelegene und mit Street Art verzierte Quartier wird von den Einheimischen heute vor allem mit dem Kulturzentrum Friche de la Belle de Mai verbunden.
Die Geschichte der alten Tabakfabrik
Untergebracht ist das Kulturzentrum in einer ehemaligen staatlichen Tabakfabrik, die ab 1861 nordöstlich des Bahnhofs Saint-Charles errichtet wurde. Es waren vor allem Frauen aus italienischen Einwandererfamilien, vorzugsweise aus dem Piemont, die dort die Zigarren und Zigaretten rollten.
Seit den 1950er-Jahren wurde dann in Marseille die Produktion von Gauloises und Gitanes-Zigaretten aufgenommen. Damals arbeiteten hier noch über 1000 Menschen, 1988 waren es nur noch 250, zwei Jahre später wurde die Manufacture des Tabacs de Marseille endgültig geschlossen. Zeitweilig stand sogar der Abriss der Hallen im Raum. Dann entschloss man sich, das 40 Hektar große Areal im Zuge eines Stadterneuerungsprojekts (»Euroméditerranée«) in ein alternatives Kulturzentrum zu verwandeln.
Eine zukunftsweisende Entscheidung! Durch die Ernennung von Marseille zur Europäischen Kulturhauptstadt 2013 erfolgte ein weiterer Schub, der das Viertel zwischen der armen Nord- und der reichen Südstadt aufwertete.
Ein kleiner Stadtteil für sich
Inzwischen gilt das Kulturzentrum als Hotspot der alternativen Kultur- und Kunstszene der Mittelmeermetropole. Es ist fast ein kleiner Stadtteil für sich mit über 70 Künstlerateliers, Ausstellungsräumen und Theatersälen, aber auch mehrere Kulturinstitute wie das Bureau du Cinéma und der städtische Sender Radio Grenouille haben hier Büro- und Studioräume eingerichtet.
Die 8000 Quadratmeter große Dachterrasse bietet einen Panoramablick und wird im Sommer als Freilichtkinospielstätte sowie für andere Veranstaltungen genutzt. An den Wänden finden sich bunte Graffiti und Street Art. Die Jugend des Viertels vergnügt sich entlang der Bahngleise auf einem Spielplatz mit Kletterwand, Skatepark sowie einem Street- und Basketballfeld. Die als Experimentierfeld begonnene Verbindung zwischen kulturellen, bildungstechnischen und sozialen Interessen scheint gelungen. Sogar eine Kinderkrippe wurde eröffnet, Sozialwohnungen sind angedacht.
Das Café im Maschinenraum
Wer will, kann sich durch das verwinkelte Gebäude treiben lassen, wobei es nicht einfach ist, die Orientierung zu behalten und das richtige Treppenhaus zu finden! Im ehemaligen Maschinenraum existiert ein Café mit Straßenterrasse und angeschlossener Buchhandlung (La Salles des Maschines), zudem findet sich im Obergeschoss ein Restaurant (Les Grandes Tables). Jeden Montag von 17 bis 20 Uhr wird vor dem Restaurant ein kleiner Bauernmarkt abgehalten, auf dem auch viele Bioprodukte verkauft werden (im Winter 16 bis 19 Uhr).