Abseits der Routen

Teil 13: Normandie
oder Eine Wattwanderung zum Mont-Saint-Michel

Der Mont-Saint-Michel ist ein faszinierendes Weltkulturerbe, das jährlich drei Millionen Menschen besuchen. Wie man den Klosterberg im Meer abseits der Routen ansteuern kann, verrät Ralf Nestmeyer in seiner Reportage. Dabei ist das Unterfangen gar nicht so ungefährlich, was bereits Victor Hugo wusste. Oder waren Sie schon mal im Treibsand?

Wenn die berühmte Silhouette des Mont-Saint-Michel aus dem morgendlichen Dunst ragt, kann man sich an diesem Anblick gar nicht satt sehen. Dieser scheinbar nicht von dieser Welt stammende Klosterberg ist die berühmteste Abtei des Abendlandes. Drei Millionen Touristen lassen sich alljährlich von seiner magischen Aura anziehen und pilgern durch die engen Gassen zum Kloster hinauf. Da die Felseninsel wenig Grundfläche für einen ausladenden Bau bot, streben alle Klostergebäude am Mont-Saint-Michel in die Höhe, dem Himmel entgegen. Zu Recht gilt die einstige Benediktinerabtei als der krönende Höhepunkt normannischer Baukunst!
Den »Ritterschlag der Sehenswürdigkeiten« erhielt der Mont-Saint-Michel mit seiner Ernennung zum UNESCO-Weltkulturerbe. Glücklicherweise reisen die meisten Touristen mit dem eigenen Auto oder Bus an und werden dann über einen Großparkplatz mittels Shuttlebussen zum Klosterberg gefahren. Wer will, kann auch zu Fuß über die moderne Stelzenbrücke hinüberlaufen.


Ein faszinierendes, aber nicht ungefährliches Unterfangen

Im Treibsand oder Ralf Nestmeyers skeptischer Blick auf ein Naturphänomen (Foto: Ralf Nestmeyer)
Im Treibsand oder Ralf Nestmeyers skeptischer Blick auf ein Naturphänomen (Foto: Ralf Nestmeyer)

Die eindrucksvollste Art, sich dem Mont Saint-Michel zu nähern, ist sicherlich eine Wanderung durch das Watt der Baie du Mont-Saint-Michel – ein faszinierendes, aber nicht ganz ungefährliches Unterfangen. Daher sollte man diese Wanderung nicht auf eigene Faust unternehmen, will man sein Leben nicht aufs Spiel setzen. Stattdessen sollte man sich einer geführten Wattwanderung (Traversée) anschließen; sie starten fast alle an der gegenüberliegenden Bucht im Norden in der Ortschaft Genêts. Das beschauliche Dorf mit seiner romanischen Kirche war im Mittelalter noch ein bedeutender Hafenort mit 3.000 Einwohnern, was man sich heute aber kaum mehr vorstellen kann.
Wir vertrauen uns François Lamotte d’Argy an, einem erfahrenen Guide, der ausgezeichnet deutsch spricht, da ein Elternteil aus Deutschland stammt. François, der zusammen mit seiner Frau Ana Maria in einem traditionellen Anwesen unweit der Küste auch drei schöne Privatzimmer und zwei Gîtes vermietet (www.montsaintmichel-clerval.com), führt seit mehreren Jahren fast täglich größere oder kleinere Gruppen durch das Watt. Die Saison dauert von Ostern bis Oktober. Im Winter ist es aufgrund der frostigen Wassertemperaturen zu kalt, denn alle Wanderer durchqueren die Bucht des Mont-Saint-Michel barfuß!


Das hohe Risiko der frommen Pilger

Schlickfüße, unabdingbares Elebnis während einer Wattwanderung (Foto: Ralf Nestmeyer)
Schlickfüße, unabdingbares Elebnis während einer Wattwanderung (Foto: Ralf Nestmeyer)

Die einsame, meerumspülte Lage barg schon für die frommen Pilger ein hohes Risiko: Sie mussten die angesichts des tückischen Treibsandes und des Tidenhubs (Höhenunterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser) respekteinflößende Durchquerung des Watts auf sich nehmen, um den Klosterberg zu erreichen. Der mit Galgenhumor vorgetragene Rat »Gehst Du zum Mont, vergiss nicht, dein Testament zu machen!« erinnert an die zahllosen Pilger, die in der Brandung den Tod gefunden haben. Victor Hugo hatte die Schnelligkeit der hereinbrechenden Fluten mit einem galoppierenden Pferd verglichen, was aber übertrieben ist, wie uns François versichert.
Der Beginn der Wanderung ist vom Tidenhub abhängig, der beim Mont-Saint-Michel knapp 14 Meter beträgt. Zweimal im Monat, so erfahren wir, bringen die Springtiden zwei Tage nach Voll- oder Neumond das Wasser auf seinen Höchststand, während bei Halbmond, zu den Nipptiden, die niedrigsten Wasserstände gemessen werden. Wenn Tagundnachtgleiche herrscht, erreicht die Flut ihren absoluten Höhepunkt.


Das Ökosystem unter den nackten Füßen

Noch sieht man ihn nur verschwommen … Der Klosterberg bei Ebbe (Foto: Ralf Nestmeyer)
Noch sieht man ihn nur verschwommen … Der Klosterberg bei Ebbe (Foto: Ralf Nestmeyer)

Wir starten unsere Wanderung wie alle Gruppen bei Ebbe, denn für eine Tour zu der sieben Kilometer entfernten Gottesfestung benötigt man mit Hin- und Rückweg rund vier bis fünf Stunden. Unsere ersten Schritte sind von dem ungewöhnlichen Gefühl geprägt, mit nackten Fußsohlen über eine Wiese zu laufen. Links und rechts grasen noch ein paar Kühe und Lämmer. Das Agneau de pré-salé (Salzwiesenlamm) genießt in Feinschmeckerkreisen einen ausgezeichneten Ruf, da sich sein Fleisch durch einen besonders würzigen Geschmack auszeichnet. Die Vegetation wird langsam spärlicher und schon bald ändert sich die Struktur des Untergrunds, der oft unter einer dünnen Wasserschicht liegt. Stellenweise ist er weicher, mal präsentiert er sich als geriffelter Sandboden, dann kann man mit den Fußsohlen harte Muschelreste spüren, die durchaus ein wenig schmerzen. Das Wasser ist kalt, aber daran hat man sich schnell gewöhnt. Kleine Priele müssen überquert werden, während wir kurzzeitig sogar unser Ziel aus den Augen verlieren, weil uns Nebelschwaden einhüllen.
Doch François, der wie alle Guides eine spezielle Ausbildung absolvieren musste, würde den Weg durch das Watt auch im Schlaf finden. Kenntnisreich erläutert er die Faszination des einzigartigen Ökosystems. Man gewinnt dadurch interessante Einblicke in die fragile Fauna und Flora der Wattlandschaft. Er zeigt uns nicht nur seltene Pflanzen und Vögel, er kennt auch ihre deutschen Namen: Brandgänse, Seidenreiher, Mantel- und Silbermöwen sowie Austernfischer.


Der Treibsand – und wie man wieder herauskommt

Das Ziel vor Augen – UNESCO-Welterbe Mont-Saint-Michel (Foto: Ralf Nestmeyer)
Das Ziel vor Augen – UNESCO-Welterbe Mont-Saint-Michel (Foto: Ralf Nestmeyer)

Schritt für Schritt rückt der Klosterberg näher. Wir umrunden die heute unbewohnte Nachbarinsel Tombelaine, auf der zahlreiche Vögel nisten. An manchen Stellen gibt es den tückischen Treibsand. Es dauert kaum eine Minute, bis man bis zu den Knien im Schlick versinkt. Doch erst nachdem uns François gezeigt hat, dass man sich nach vorne auf die Knie senken muss, um sich wieder leicht aus dem Sand zu befreien, habe ich den Mut, das Experiment zu wagen. Ein seltsames Gefühl, so langsam zu versinken!
Zuletzt müssen wir noch einen kleinen Fluss durchqueren, wobei man bis zum Oberschenkel durch die deutlich wahrnehmbare Strömung watet. Dann sind es nur noch wenige Minuten, bis man am Mont-Saint-Michel ankommt. Die Besichtigung des Klosters wird auf den nächsten Tag verschoben. Stattdessen suchen wir uns einen sonnigen Felsen und verzehren den mitgebrachten Proviant: knusprige, mit Camembert belegte Baguettes. Gestärkt nehmen wir den Rückweg in Angriff, der mit einer erneuten Flussdurchquerung beginnt!


Reisepraktische Infos

Eine geführte Wattwanderung (hin und zurück) kostet gerade mal 15 €, für Kinder (10-12 Jahre) 12 €. Nähere Infos, auch zur Saison und zu den Terminen/Uhrzeiten: www.traversee-montsaintmichel.com