Der Wald ist ein deutscher Sehnsuchtsort, der aber auch großflächig ausgebeutet wird. In einem Stadtteil von Münster trifft man heute auf einen urwüchsigen Totholzwald, der seiner Wirtschaftlichkeit entkommen konnte. Mit der Folge, dass man auf Eisvögel, Feuersalamander und seltene Spechtarten stößt. Wie sich der Wolbecker Tiergarten zu einem Naherholungsgebiet entwickelt hat und wann sich ein Besuch besonders lohnt, verrät Markus Terbach, Autor unseres neuen Münster & Münsterland-Reiseführers.
Eine Siedlung mit Einfamilienhäusern und im Sommer die grüne Wand eines Laubwaldes sieht, wer an der Haltestelle Am Tiergarten in Münster-Wolbeck den Bus der Linie 22 verlässt. Direkt gegenüber lockt ein kleiner Trampelpfad, um in den Wald einzutauchen: Das ist der Wolbecker Tiergarten.
Abseits des rasterförmigen Wegenetzes
Gut, dass die letzten Tage sonnig waren und festes Schuhwerk an den Füßen ist, denn der Waldboden ist noch feucht. Immer wieder kommen rechts und links des Weges kleine Wasserflächen in den Blick. Zahlreiche alte, erhabene Eichen und Buchen, darunter einige bereits absterbende mehrhundertjährige Exemplare, deuten an, dass es ein Wald mit langer Geschichte ist. Mitten hindurch fließt ein kleines Flüsschen, die Angel. Der Nordteil, in den der Trampelpfad an der Bushaltestelle einbiegt, ist reizvoll, weil er nicht Teil des rasterförmigen Wegenetzes ist, das am Forsthaus beginnt.Wie nur wenige Wälder im Münsterland ist der Wolbecker Tiergarten schon seit Jahrtausenden mit Eichen, Buchen und Hainbuchen bewaldet. Holzeinschlag, Wildhege, Jagd und Mast von Hausschweinen waren jahrhundertelang die Hauptnutzung. Die Gründe für den Artenreichtum liegen in der Geschlossenheit und für die Region überdurchschnittlichen Größe des Forstes von fast 300 Hektaren. Bedeutsam war aber auch, dass der Wald die mittelalterlichen Rodungen und Waldverwüstungen überstand: dank der Protektion durch seine Besitzer, die Münsterschen Fürstbischöfe. Die ältesten Bäume, die noch immer zu sehen sind, stammen etwa vom Beginn der Preußenzeit.
Der Staatsforst im Zeitraffer
Der Staatsforst wurde erstmals im 12. Jahrhundert angelegt. In die bis heute erhaltene Form brachte ihn der Wunsch von Fürstbischof Clemens August. Er wollte ein stadtnahes Jagdrevier erhalten, das gleichzeitig ein Erholungsort sein konnte. 1740 wurden deshalb, ausgehend vom schon 1712 errichteten Forsthaus, breite, rasterförmige Wege angelegt, ebenso Erdwälle an den Waldrändern, damit auch ja kein Wild einen Weg aus dem Revier finden würde. Mit der Säkularisation 1803 geriet der Tiergarten in preußische Hand. Und weil nichts so bleiben sollte wie in der Zeit zuvor, ließ Preußen-General Blücher das letzte Wild schießen und verfügte die reine Nutzung als Wirtschaftswald. Das gilt für einen Teil bis heute. Ab 1890 nutzte ihn die Bevölkerung als schönes Naherholungsgebiet. Bis in den Zweiten Weltkrieg hinein gab es sogar eine Gastronomie.Der Naturschutz ist im Tiergarten schon seit 1911 präsent, als die preußische Verwaltung ein kleines Naturschutzgebiet auswies. Doch erst 2005 wurde der gesamte Tiergarten zum Naturschutzgebiet erklärt, nach der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der EU. Politik und Verwaltung hatten lange gebraucht, um zu erkennen, was für ein Naturschatz da an der östlichen Stadtgrenze lag. Einen vergleichbaren naturnahen Laubbaumbestand (Hainsimsen-Buchenwald bzw. Stieleichen-Buchenwald) gibt es in der Region nämlich nicht.
Artenreiches Totholzgebiet
Der Wolbecker Tiergarten ist aber nicht nur ein totholzreiches Waldgebiet, das Flechten und Moosen sowie Insekten Lebensraum gibt. Er zeichnet sich auch durch eine große Vielfalt von Vogel- und Fledermausarten aus. Im Frühjahr sind Bunt-, Schwarz- und die selten gewordenen Mittelspechte zu hören. Wer die Muße hat, länger auf der Angelbrücke zu verweilen, sieht vielleicht einen Eisvogel, der in den Steilufern des Baches brütet. Ein Abendspaziergang vor einer feuchtwarmen Frühjahrsnacht kann die Begegnung mit dem Feuersalamander bringen. Die Feuchtwiesen und verschiedenen Gewässerbiotopen in der Angel sind sein Revier.Die »Urwaldzeit« des Tiergartens begann erst 2011. Ein 50 Hektar großes »Wildnisgebiet« ist seit einem Sturm 2010, der große Schäden im Altbaumbestand verursacht hatte, im Südteil zu finden. Alt- und Totholz ist seitdem noch reichlicher vorhanden und vermittelt Eindrücke, die in den großen Wirtschaftswäldern kaum zu bekommen sind. Dazu zählt auch ein besonderer Lichteinfall, den man nur noch in wenigen Wäldern Deutschlands finden dürfte.
Reisepraktische Hinweise
Da es am Tiergarten nur einen kleinen Parkplatz gibt, empfiehlt sich die Anfahrt mit dem Bus: Linie 22, Haltestelle Am Tiergarten (Fahrtzeit 23 Minuten vom Hauptbahnhof), zwei Fahrten in der Stunde, die dritte Fahrt endet ein Stück vom Tiergarten entfernt. Wanderwege: Wolbecker Spaziergang und Wolbecker Tiergarten