Lisa Kügel, die Autorin unseres Gomera-Reiseführers, ist bei ihrem letzten Besuch auf der für ihre urwüchsige Natur berühmten Kanareninsel auf ein weniger rühmliches Thema gestoßen. Sie nimmt uns mit auf einen Spaziergang zu Gomeras „Cristo“, einer riesigen Christusstatue, die ein wenig an die Cristo-Statue im brasilianischen Rio de Janeiro erinnert. Sie ist eins von mehreren EU-subventionierten Bauprojekten, die eine Nummer zu groß geraten zu sein scheinen für die kleine Insel ...
Wir schrauben uns aufwärts auf der GM-2, einer der beiden Hauptstraßen La Gomeras. Am Mirador Lomada del Camello lenken wir den Fiat Panda auf die weitläufige asphaltierte Fläche des Aussichtspunkts, um auf die Inselhauptstadt San Sebastián hinunter- und die Weiten des Atlantiks hinauszublicken.
Strahlend weiß wacht das Monumento al Sagrado Corazón de Jesús einsam auf einem Hügel über der Stadt. Der „Cristo“, wie die Christusstatue kurz genannt wird, schwebt ganz aufrecht, die Arme leicht geöffnet, über der Ansammlung von bunten Häusern und dem Hafen, in dem weiße Segelboote verschlafen hin und her schaukeln. Er ist, vor der Kulisse der Stadt und bei klarer Sicht, wenn der mächtige Teide Teneriffas sich mit aufs Foto gesellt, eines der Top-Fotomotive der Insel. Er könnte aber auch Anwärter für eine weniger rühmliche Liste werden: die leider lange Liste verlassener oder kaum genutzter Bauwerke auf La Gomera, die nicht etwa vor mehreren Hundert, sondern in den letzten Jahrzehnten erbaut wurden.
Die kleine
„Isla mágica“ kann man kaum über den Hotel-Garten hinaus erkunden, ohne beim
Schwärmen ob markanter Barrancos, idyllischer Palmenhaine und des zauberhaften
Lorbeerwalds im Inselherzen weniger pittoreske Entdeckungen zu machen:
Eine breite
Straße, die es mit dem Verkehrsaufkommen in einer deutschen Kleinstadt
aufnehmen könnte, schlängelt sich durch karge Sukkulenten-Landschaften im
Inselsüden von Dorf zu Dorf und endet abrupt im Nirgendwo. Im botanischen
Garten von Vallehermoso grünen Pflanzen inmitten einer gepflegten Parkanlage,
das futuristische Eingangsgebäude aber steht leer, die Tore zum Gelände mit
Ketten verrammelt. Und am Strand von Hermigua verfällt ein verlassenes
Hallenbad, das nie in Betrieb genommen wurde.
La Gomera ist für seine urwüchsige Natur und Abgeschiedenheit bekannt – doch neben Felsformationen und schwarzen Stränden finden Reisende auf der Kanareninsel auch immer wieder Bauprojekte, die wie Fremdkörper wirken. Sie entstanden, wie uns die alternden Schilder mitteilen, mithilfe hoher EU-Subventionen und unter der Prämisse, die Wirtschaft der Region zu fördern. Allerdings konnten viele nicht nachhaltig betrieben werden, sie stehen leer oder verfallen gar. Auf der Suche nach Gründen für den Leerstand hört man Spekulationen und Gerüchte, die von bürokratischen Hürden handeln und von Klüngeleien, bekommt aber wenig handfeste Informationen.
Warum also nicht von Nahem einen Blick auf Gomeras neuestes, prominent platziertes und vermutlich überdimensioniertes Bauprojekt werfen? Der Grundstein des ursprünglich vom Bildhauer José Larrea Echániz geschaffenen Monuments wurde bereits 1962 gelegt. 2014 beschloss die Regierung Gomeras jedoch die etwa drei Millionen Euro teure Umgestaltung des Aussichtspunktes. Ein Panorama-Café sowie eine Ausstellung zur inseltypischen und zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannten Pfeifsprache El Silbo sollte entstehen. Die Statue wurde zum Zweck ihrer Restaurierung demontiert, um 9 Jahre später zurückzukehren. Es ist Zeit für einen Besuch!
Der aussichtsreiche Fußweg zur Statue ist von San Sebastián in etwa 45 Minuten zu bewältigen und perfekt geeignet für einen ausgedehnten Spaziergang, auch mit Kindern. Den aus der Ferne fast unscheinbar wirkenden Cristo hat man bereits beim Start am alten Dieselkraftwerk am südwestlichen Ende der Playa von San Sebastián fest im Blick.
Ein schmaler Wanderweg führt in Kehren steil den von Wolfsmilch bewachsenen Hang hinauf, und nach einer Viertelstunde erreicht man bei einem Kreuz einen ersten grandiosen Aussichtspunkt, direkt an der Abbruchkante der Klippen. Der Blick schweift weit über Städtchen und Meer.
Der Weg folgt ohne große Steigungen der Küstenlinie auf der buschig-kargen und windigen Hochfläche, bis man nach einer weiteren Viertelstunde auf ein Schild stößt, das den Abzweig zum Cristo markiert. Es geht wieder bergauf, und nach weiteren gut fünfzehn Minuten steht man am Fuß der Statue, die nun groß und mächtig auf ihrem Sockel aufragt und gar nicht mehr unscheinbar, sondern durchaus eindrucksvoll wirkt. Der Blick zurück eröffnet einmal mehr die spektakuläre Sicht auf San Sebastián, Atlantik und Teide.
Eindruck macht leider auch die makellos glatt asphaltierte Fläche des Parkplatzes, der sich beim Umrunden des Monuments gähnend leer vor uns ausbreitet. Und auch Restaurant und Ausstellungsgebäude in spe, die unterhalb des Sockels liegen, glänzen in neuem Beton-Grau und sind ohne Leben. Der Wind pfeift hier oben, Absperrbänder flattern im Wind, und man meint, die bösen Zungen zu hören, die eine weitere subventionsgeförderte Bauruine prognostizieren.
Zurück in die Stadt nehmen wir denselben Weg. Die Gedanken sind beim einsamen Cristo. Bei der Vorstellung von zahlreichen Besuchern, die der weißen Gestalt bewundernd Gesellschaft leisten, sich über das kulturelle Erbe Gomeras informieren und dabei Papas Arrugadas mit Mojo genießen. Beim nächsten Besuch vielleicht!