Reportage

»Die ständige Ungewissheit zermürbt«
Santoríni – der Erdbebenschwarm vom Februar 2025

Autor Dirk Schönrock lebt seit einigen Jahren zeitweise auf der Kykladeninsel Náxos. Sein Haus liegt rund 50–60 km Luftlinie entfernt vom Zentrum des Erdbebenschwarms zwischen den Inseln Santoríni und Amorgós, der es Anfang Februar bis in die deutschen Fernsehnachrichten schaffte. Zum Zeitpunkt der stärksten Erdbeben in der ersten Februarhälfte hielt er sich auf Náxos auf und stand auch ständig in Kontakt mit seinen Freunden auf Santoríni. Laut den griechischen Behörden liegt Náxos zwar außerhalb der unmittelbaren Gefahrenzone, aber dennoch nah genug, um die stärkeren Erdstöße deutlich zu spüren. Rund zehn Tage hat er das tiefe unterirdische Grollen und die Vibrationen der Erdbeben Tag und Nacht miterlebt. Bis heute ist der Erdbebenschwarm noch im Gange, aber Magnituden und Häufigkeit der Beben sind geringer geworden. Eine endgültige Entwarnung ist das (noch) nicht.

Portrait Autor Dirk Schönrock
Autor Dirk Schönrock

Mittlerweile ist bekannt, dass der noch immer anhaltende Erdbebenschwarm schon Anfang Dezember 2024 einsetzte, mit vielen Hundert Beben pro Tag. Ihre Magnituden auf der Richterskala waren jedoch zunächst so gering, dass sie nur von Wissenschaftlern zur Kenntnis genommen wurden, die sich täglich mit der seismologischen Situation in der Ägäis befassen. Erdbebenschwärme sind zwar keine häufigen seismologischen Erscheinungen, doch im Dezember und Januar schien der Schwarm mit untermeerischen Epizentren zwischen den Inseln Santoríni und Amorgós kaum bedrohlich. Das änderte sich Ende Januar / Anfang Februar 2025, als die Magnituden der Erdbeben die Stärke von 4 auf der Richterskala überschritten, wo bereits geringe Schäden möglich sind. Erdbeben dieser Stärke sind in bis zu 30 km Entfernung zu spüren, sofern sie oberflächennah stattfinden. Der aktuelle Erdbebenschwarm bei Santoríni findet größtenteils in eher geringen Tiefen zwischen 2 und 10 km statt, ist also in der gesamten südlichen Ägäis deutlich zu spüren.

Blick auf Landzungen aus Gestein, die ins Meer abfallen. Im Hintergrund sieht man Schiffe.
Blick auf die Caldéra-Wand von südlich des Hafens Athiniós Megalochori – Foto: Dirk Schönrock

Am Samstag, den 1. Februar 2025, erreichten die Erdbeben erstmals Stärken, die auch in 50 bis 60 km Entfernung in meinem Haus auf Náxos zu spüren waren. Gegen 15.30 Uhr vibrierten plötzlich Gläser im Regal, Spiegel und Bilder an der Wand rund 20 Sekunden lang. Der Kater erwachte aus dem Nachmittagsschlaf, und es war klar: ein Erdbeben. Zunächst kein Grund zur Panik: Zwei- bis dreimal pro Jahr sind Erdbeben, die in den gefährdeten Regionen Griechenlands stattfinden und auch bis Náxos ausstrahlen, keine Seltenheit. Die erste Reaktion: ein Blick auf die Website der Erdbeben-Statistik der Universität Athen. Dort werden stets nach ein paar Minuten das Epizentrum, die Magnitude und die Tiefe eines Erdbebens für ganz Griechenland in einer Tabelle und einer Karte angegeben. Die Überraschung: Der Blick auf die Karte zeigte zahllose Erdbeben in den letzten Tagen, die aber nicht spürbar gewesen waren. Eine solche Häufigkeit von Erdbeben um Santoríni hatte ich noch nie auf dieser Karte gesehen. Und das Beben von 15.30 Uhr erreichte 4,3 auf der Richterskala.

Blick über weißes Gestein auf Landzungen und Schiffe im Meer.
Blick in die Caldéra - im Vordergrund eine Bimssteinwand – Foto: Dirk Schönrock

Der ganze Samstag blieb unruhig, alle paar Stunden wackelte der Boden. Die Beben setzten sich fort, und die griechischen Medien berichteten erstmals von einem »Erdbebenschwarm bei Santoríni«. Am Sonntag erreichten fast ein halbes Dutzend Beben die Stärke von 4,5 auf der Richterskala. Am Montag, den 3. Februar, kam es gegen 14.15 Uhr zum ersten Beben der Serie, das die Stärke von 5 erreichte. Ab Stärke 5 wird es gefährlich, lernen in Griechenland die Kinder in der Schule. Und es folgten noch weitere Beben der Stärke 5 am gleichen Tag und in den folgenden Tagen. Die Distanz zu Santoríni und die Tatsache, dass Náxos auf einem stabilen untermeerischen Granitrücken liegt, schwächten die Erdstöße genügend ab, es gab keine Schäden auf der ganzen Insel. Selbst das (bisher) stärkste Beben des Schwarms mit einer Stärke von 5,3 am Montag, den 11. Februar, gegen 22.15 Uhr verursachte keine sichtbaren Schäden. In der Folge gab es einige »ruhige« Tage, bis zu vereinzelten weiteren Beben um 5 bis Ende Februar. Insgesamt haben jedoch in der zweiten Februarhälfte sowohl die Anzahl der Beben als auch ihre Magnituden im Durchschnitt abgenommen. In der Phase der stärksten Aktivität gab es inklusive der Mikrobeben bis zu tausend Erdstöße pro Tag, der ganze Monat Februar 2025 verzeichnete über 22.000 Erdbeben im Seegebiet um Santoríni – ein Rekord seit Beginn der Aufzeichnungen.

Blick auf eine rote Kraterwand am Rande einer Straße.
Lavawand im Inselnorden – Foto: Dirk Schönrock

Während im Fall von Santoríni rund zwei Drittel der etwa 15.000 Menschen zählenden Bevölkerung die Insel in den ersten Februartagen verlassen haben, herrschte auf Náxos ziemliche Gelassenheit. Die Naxioten fühlen sich weit genug weg von Santoríni und fürchten allenfalls einen Tsunami, der von einem Beben ab etwa 6,5 auf der Richterskala ausgelöst werden könnte und der in weniger als zehn Minuten auf die Küsten von Náxos treffen würde. Aber generell ist man an Erdbeben in Griechenland gewöhnt. Die hier lebenden Ausländer waren beunruhigter als die Insulaner. Auch ich war zugegebenermaßen in den ersten Tagen nervös. Alle paar Stunden gab es ein deutlich spürbares Beben, und der Schlaf in der Nacht war entsprechend schlecht. Die Müdigkeit und die Ungewissheit über den Fortgang der Beben zermürben und sorgen auch für einen gewissen Fatalismus. Denn im Gegensatz zu Vulkanausbrüchen lassen sich Erdbeben kaum vorhersagen. Zuerst ist das tiefe unterirdische Grollen zu hören, da sich die Schallwellen schneller übertragen als die seismischen Wellen, danach zittert das Haus ein paar Sekunden. Länger als eine halbe Minute dauerte aber keines der größeren Beben. Mit der Zeit stellt sich ein gewisser Gewöhnungseffekt ein. Nach ein paar Wochen mit ständigen Vibrationen des ganzen Hauses wacht dann noch nicht einmal der Kater bei einem Beben mit 4,5 auf.

Blick vom Meer auf eine rote Felswand. Eine steile, kurvige Straße führt vom oben gelegenen Dorf zum Hafen.
Blick auf die rote Kraterwand von Oía – Foto: Dirk Schönrock

Wissenschaftliche Erklärungen

Hintergrund der seismischen Aktivität rund um Santoríni ist die Subduktion der afrikanischen unter die europäische Erdplatte in der Südägäis. An einer der Bruchstellen in der Erdkruste ist vor Hundertausenden von Jahren ein Vulkan entstanden, der die ehemals fast runde Insel Santoríni entstehen ließ. Bei einem der größten Vulkanausbrüche auf der bereits von Menschen besiedelten Erde entstand um 1600 v. Chr. der Archipel Santoríni mit heute fünf Inseln. Unter den Inseln im Zentrum der Caldéra liegt der Schlot des Santoríni-Vulkans. Es gibt aber auch noch einen untermeerischen Nebenkrater rund 8 km nordöstlich von Santoríni, der sogenannte Koloúmbos-Vulkan, dessen Krater rund 1,5 km Durchmesser aufweist. Er wurde erstmals entdeckt, als er 1649–1650 ausbrach und die Meeresoberfläche durchbrach. In den Jahren 2010–12 wurde ebenfalls eine verstärkte Aktivität am Koloúmbos verzeichnet, die sich ohne Ausbruch wieder beruhigte. Im Oktober 2022 wurde eine bisher unbekannte Magmakammer im Koloúmbos entdeckt, die sich langsam füllt, aber laut Wissenschaftlern in den nächsten tausend Jahren kein Risiko darstellt, sofern sich der Magmafluss nicht verstärkt.

Ein Dorf bestehend aus weißen Häusern liegt am Rand zum Meer. Im HIntergrund sieht man die Küste, die steil zum Meer abfällt.
Blick über Firá – Foto: Dirk Schönrock

Neben den recht gut erforschten und kalkulierbaren Vulkanen liegen rund um Santoríni zahlreiche Bruchzonen in der untermeerischen Erdkruste. Ein solcher Graben zieht sich in Richtung der unbewohnten Insel Ánydros und weiter bis Amorgós. Die Epizentren des aktuellen Erdbebenschwarms konzentrieren sich in dieser sogenannten »Ánydros-Störung«. Zu Beginn der Bebenserie hielten Seismologen die Erdstöße für rein tektonisch bedingt, d. h. verursacht durch die Verschiebung der Erdplatten. Grundsätzlich lassen sich Erdbeben, im Gegensatz zu vulkanischer Aktivität, kaum vorhersagen. Dennoch rechnete man mit entweder einem langsamen, vielleicht Monate andauernden Abklingen der Beben oder einem größeren »Abschlussbeben« mit einer Stärke von über 6,5 auf der Richterskala.

Blick auf große, weiße Felsen im Meer.
Blick auf Santorínis Südwestspitze mit weißem Vulkangestein – Foto: Dirk Schönrock

Die Situation änderte sich jedoch am 13. Februar, als einige Experten die Beben vulkanischem Ursprung zuordneten. Das führte vorübergehend zu einer gewissen Panik, denn es wurde eine Unterwassereruption befürchtet mit unkalkulierbaren Folgen. Es wurden Parallelen gezogen zum submarinen Ausbruch von El Hierro (Kanaren) im Jahr 2011. Zwar konnten Wissenschaftler nachweisen, dass am Koloúmbos ein unterirdischer Lavafluss in Gang gekommen ist, doch trat bisher keine Lava an die Oberfläche, und aktuell scheint es so, als würde der Lavafluss die tektonische Situation beruhigen.

Blick auf eine Insel im Meer. Im Vordergrund sind Sträucher mit lila Blüten zu sehen.
Blick auf die Vulkaninseln Paléa Kaméni und Néa Kaméni in der Caldéra – Foto: Dirk Schönrock

Ausblick auf die Saison

Das letzte stärkere Erdbeben liegt nun schon über drei Wochen zurück, und generell sinken sowohl die Anzahl der Beben als auch ihre Magnituden. Von einem drohenden Vulkanausbruch spricht ohnehin niemand mehr. Das Abklingen der Aktivität ist natürlich noch keine endgültige Entwarnung, doch die Wahrscheinlichkeit für ein massives »Abschlussbeben« wird als gering angesehen. Hotel-, Tavernen- und Ladenbesitzer sowie meine Freunde sind fast alle auf die Insel zurückgekehrt und bereiten sich langsam auf den Start der Saison vor.

Blick auf eine Badestelle mit rotem Gestein vor einer roten Felswand. Einzelne Personen stehen auf Felsen im Wasser.
Blick auf den Red Beach mit der roten Kraterwand – Foto: Dirk Schönrock

Der Tourismus aus den europäischen Ländern beginnt meist um die Osterzeit, der erste Direktflug von Deutschland nach Santoríni ist für den 5. April vorgesehen. Auch die Kreuzfahrtgesellschaften haben ihre Routen für den Sommer 2025 nicht geändert und planen den Stopp auf Santoríni wie in den Vorjahren. Sollte der Erdbebenschwarm nun endgültig abebben, steht einer guten Saison für den Pauschal- und Individualtourismus auf Santoríni nichts mehr im Wege. Gut, dass die Neuauflage des Reiseführers »Santorini« nun in diesen Tagen erscheinen wird.

Dirk Schönrock, z.Zt. Náxos

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