Andreas Haller hat schon sieben Reiseführer für uns geschrieben, darunter ein Fernreisebuch zu Sri Lanka und einen MM-City-Guide zu Köln. Für die neue Auflage seines Kompendiums zum Golf von Neapel hatte sich der Reisejournalist eine besonders ungeliebte Recherche vorgenommen – und ein unerwartetes und augenöffnendes Alltagsabenteuer erlebt. Alles launig und persönlich erzählt, wie es sich für MM-Autorinnen und -Autoren gehört.
Die wirklichen Abenteuer passieren dann, wenn man sie nicht braucht – oder nicht damit rechnet. Neulich war ich in Neapel, um für die Neuauflage des Golf von Neapel-Reiseführers zu recherchieren. Es war Freitag, und für diesen Tag war meine To-do-Liste überschaubar: Zuerst eine Stippvisite in einem Museum, danach in die Neustadt, um eine Handvoll Hotels und Restaurants zu überprüfen. Alles ganz friedlich, business as usual …
An sich mag ich Museen auf Recherche nicht gerne. Sie zu besichtigen, erfordert Zeit, die ich im Grunde nicht habe. Der Nutzen für das Buch ist andererseits begrenzt, denn wer steht schon auf Museen? Abgesehen von berühmten Tempeln wie den Uffizien in Florenz, dem MoMa in New York oder dem Archäologischen Nationalmuseum in Neapel, das die spektakulären Funde aus Pompeji verwahrt … Wohl niemand, der einigermaßen bei Trost ist. Denn zeitgleich locken ein Ausflug nach Capri, ein Bad in den Thermen von Ischia oder eine Wanderung auf der Halbinsel von Sorrent. Bei dieser Konkurrenz halten drittklassige Museen schwerlich mit.
Deshalb habe ich dafür nur ein kleines Zeitfenster reserviert. Ein Kumpel hatte mir gesteckt, dass ich mir die naturkundlichen Sammlungen der Universität trotzdem ansehen sollte: ein Museum fast ohne Besucher, sieht man von Schulklassen und Studierenden einmal ab … Ein Museum mitten im Zentrum, an dem die Touristenströme seit jeher demonstrativ vorbeilaufen … Mit anderen Worten, ein echter Geheimtipp!
An sich mag ich Geheimtipps nicht gerne. Denn einmal in den Reiseführer aufgenommen, sind sie es die längste Zeit gewesen. Aber gut, allen Vorbehalten zum Trotz stehe ich an diesem Freitag so ausgeschlafen, wie ich nur sein kann, an der ziemlich unscheinbaren Seitenpforte der Universität und harre, leicht genervt, der kommenden Dinge. Dann betrete ich keine Hochglanz-Lobby, sondern etwas, das so wirkt wie der Lieferanteneingang einer Postverteilungsstelle. Nach einer der ältesten und glanzvollsten Universitäten des europäischen Kontinents sieht der Empfang jedenfalls nicht aus!
1266 vom Stauferkaiser Friedrich II. begründet, beförderte die akademische Lehr- und Forschungsanstalt im ausgehenden Mittelalter den Aufstieg Neapels von einer zweitrangigen Provinzmetropole zur Hauptstadt des italienischen Südens. Klar, dass sich in den heiligen Hallen bis heute einiges angesammelt hat – vom ehrwürdigen Heliostat (der Apparat lenkt Sonnenlicht mittels eines Spiegels auf einen Punkt, aus welchem Grund auch immer) bis zum fluoreszierenden Mineral (ein Gestein, das bei Dunkelheit leuchtet). 1992 erfolgte die Gründung der naturkundlichen Sammlungen. Heute präsentieren sie unter der Bezeichnung Centro Museale delle Scienze Naturali e Fisiche 300.000 Objekte auf einer Fläche von 4000 Quadratmetern.
Logisch, dass mein kleines Zeitfenster mir nicht gestattet, alle Abteilungen aufzusuchen. Ohnehin bin ich vorwiegend an der berühmten ehemaligen königlichen Mineraliensammlung (Real Museo Mineralogico) mit ihren 30.000 Exponaten interessiert, hauptsächlich aus dem Grund, weil ich als kleiner Junge selbst einmal begeisterter Mineraliensammler war. Die Wächterin an der Pforte, die am Seiteneingang der Universität darüber befindet, wer hineindarf und wer nicht, strahlt mich an (vielleicht ist sie davon erbaut, dass sich endlich jemand erbarmt, die Sammlungen aufzusuchen). Sie klärt mich darüber auf, dass die Ausstellungen an verschiedenen Standorten verstreut lägen und ich zuerst ins Physikmuseum müsse, um mir eine Eintrittskarte zu kaufen. Very easy: Zwei Treppen hoch, dann den Gang nach rechts, dann wieder links und schließlich wieder rechts.
Mangels eines Leitsystems, das diesen Namen verdient, ist überhaupt nichts easy. Doch nach mehreren Anläufen finde ich den Eingang und löse brav mein Ticket, das mich aber zunächst zwingt, alle Räume des Museo di Fisica zu durchschreiten. Herrlich angestaubte Vitrinen aus dunkel getäfeltem Holz enthalten faszinierend anzuschauende Apparaturen, deren Sinn und Funktion sich mir allerdings größtenteils nicht erschließt. Aber wie gesagt, der Zweck meines Besuchs gilt anderen Dingen. Und so warte ich nicht ab, bis ich den Rundgang durch die Räume komplettiert habe, um mir danach wie bei einer Schnitzeljagd vom Ticketverkäufer den Weg zur nächsten Ausstellung erklären zu lassen. Ich mache mich gleich auf die Socken.
Das hätte ich wohl besser nicht getan. Denn nur wenige Treppen und fast endlos erscheinende Gänge später habe ich nur noch eine vage Ahnung, wo ich mich befinde. Die wenigen Schilder an der Wand führen entweder ins Nichts oder mich an der Nase im Kreis herum, als trieben sie mit mir ein lustiges Vexierspiel in einem akademischen Panoptikum. Ich hätte mir einen der riesigen, schweren Marinekompasse aus Raum drei des Physikmuseums unter dem Arm klemmen sollen. Sie stammen zwar aus dem 18. Jahrhundert, dürften aber heutzutage immer noch funktionieren.
Also schnellstmöglich zurück zum Ticketverkäufer, vor dem ich niedergeschlagenen Auges treten werde und vor dessen triumphierenden Blicken ich mich jetzt schon fürchte. Seltsam, dass kaum Menschen unterwegs sind, die ich nach dem Weg fragen kann! Einige wenige Studierende hocken mangels Sitzgelegenheiten vor verschlossenen Hörsaal- und Seminartüren auf Simsen oder dem Fußboden und tippen etwas in ihre Laptops. Ich fühle mich wie ein Geist, denn sie schauen kaum auf, wenn ich vorüberhusche.
Irgendwann beginne ich, Gefallen an der absurden Situation zu finden. Ist es nicht wunderbar? Schon häufig bin ich draußen am repräsentativen Hauptgebäude der Universität vorbeigelaufen und hatte den Wunsch, mir die Institution von innen anzusehen. Doch in Süditalien braucht man einen Grund, um in öffentliche Gebäude hineinzulangen, sonst kommt man an der Pforte nicht vorbei. Und den Grund halte ich erst heute in den Händen – einen glaubhaften Grund in Gestalt eines Museumstickets.
Staunend streife ich durch lange Gänge, überquere weitläufige Hinterhöfe und bewundere die übermannshohen Gipsskulpturen verdienter Gelehrter unter den Arkaden. Mir wird bewusst, wie hoch die Räume sind, einige schmucklos-karg, andere mit reichlich Stuckornat versehen. Jedes Zeitgefühl ist inzwischen verloren, meine sonstigen Pläne für den Tag Makulatur, als ich mir nichts, dir nichts wieder am Eingang zum Physikmuseum stehe.
Anstatt mir wortreich den Weg zur nächsten Ausstellung zu erklären, öffnet der Ticketverkäufer das Fenster und weist auf den Seitenflügel, wo sich wie von Zauberhand ebenfalls ein Fenster öffnet und ein gesetzter Herr mir mit der Hand ein Zeichen gibt. Dorthin müsse ich.
Jetzt geht es schneller voran, denn sämtliche Gänge und Treppen sind mir inzwischen vertraut. Die nächste Ausstellung widmet sich der Anthropologie (Entwicklung der Menschen), was mich gelinde gesagt nicht gerade vom Hocker haut. Immerhin, einen Gruseleffekt lösen deformierte Säuglingsschädel aus, die in Glasballons schwimmen. (Wer darauf steht, sollte die anatomische Sammlung der Medizinfakultät auf der anderen Seite der Altstadt aufsuchen, die in der Hinsicht mehr zu bieten hat.)
Von der Anthropologie zur Zoologie ist der Weg ausnahmsweise kurz. Die zoologische Sammlung möchte ich ähnlich schnell wie die anthropologische hinter mich bringen. Schließlich schiele ich trotz der inzwischen vorgerückten Stunde noch immer auf die Mineralien.
Doch selbst daraus wird nichts. Das zentrale Exponat in der bereits wegen ihrer Ausmaße sehr eindrücklichen Halle ist ein vollständig erhaltenes Elefantenskelett aus dem 18. Jahrhundert. Es handelt sich um ein besonderes Tier, nämlich um den sogenannten „Elefanten von Portici“. Sieh an, sieh an, das ist ja interessant! Ich wusste überhaupt nicht, dass am Fuß des Vesuvs einmal Elefanten lebten. Museumsbesuche sind also doch zu etwas gut!
Ich schieße meine Pläne für den Tag in den Wind und lasse mich auf das Ausstellungsobjekt ein: Der König von Neapel, Karl von Bourbon, erhielt den Elefanten 1742 vom osmanisch-türkischen Sultan im Tausch gegen feinsten Marmor. Fortan lebte das Tier in den Stallungen und Gärten der Reggia di Portici, dem berühmten Schloss, das in jener Zeit das Ziel des europäischen Bildungsbürgertums und des Adels war.
In der Residenz vor den Toren Neapels lagerten die römischen Schätze aus Pompeji und Herculaneum. Für die Einheimischen war der Elefant im Vergleich zu den Kunstschätzen aber die weitaus größere Attraktion. Sogar auf die Bühne des Teatro San Carlo schaffte es der Dickhäuter, um der Oper „Alexander in Indien“ von Pietro Metastasio ein exotisches Setting zu verleihen. Groß war allenthalben die Trauer, als der Elefant 1756 (wahrscheinlich aufgrund nicht artgerechter Haltung) überraschend verstarb. Verewigt ist das Tier in Gemälden und in Gestalt von Statuen – sowie in Form des Skeletts in der zoologischen Sammlung der Universität.
Auch wenn das Ende der Geschichte traurig ist, verlasse ich
den Ausstellungsraum beschwingt. Denn allein wegen diesem Exponat hat sich für
mich der Museumsbesuch gelohnt. Und natürlich verdienen die naturkundlichen
Sammlungen einen fetten Eintrag in der Neuauflage des Golf von Neapel-Reiseführers.
Was es sonst noch zu sagen gibt: Die königliche mineralogische Sammlung habe ich schließlich doch noch gefunden. Ich staunte einmal mehr über den unendlichen Formenreichtum, den die Natur hervorbringt, und begeisterte mich für bislang unbekanntes kristallines Gestein namens Vesuvianit (entdeckt am Monte Somma). Ich registrierte den grandiosen Saal, der einstmals die Bibliothek des Jesuitenkollegs beherbergte, bevor die 1801 von König Ferdinand IV. ins Leben gerufene Mineraliensammlung Einzug hielt.
Ich war endlich angekommen in der Wunderkammer und betrachtete die zahllosen Schätze. Aber irgendwie war ich nicht richtig bei der Sache. Meine Gedanken weilten noch immer bei dem Dickhäuter, der solch ein seltsames Leben am Fuße des Vesuvs geführt hatte …