Projekte und Initiativen, die sich mit Nachhaltigkeit beschäftigen, liegen uns und unseren Autorinnen und Autoren besonders am Herzen. Köln-Autor Andreas Haller hat sich in der Domstadt umgesehen, genauer gesagt im touristisch eher unbeleckten Mülheim, und dabei Menschen getroffen, die sich dem Nachhaltigkeitsgedanken verschrieben haben. Wer ihn auf seinem Spaziergang begleitet, erfährt allerlei Spannendes über das rechtsrheinische Viertel, in dem verborgene Schätze schlummern und nach Kräften upgecycelt und wiederverwertet wird.
Als Olivér den Wiener Platz als Treffpunkt für den gemeinsamen Stadtrundgang vorschlägt, muss ich schlucken. Köln-Mülheim? Auf der „falschen“ Seite des Rheins, der „Schäl Sick“, wie die Kölner sagen? Ich hatte hippe, linksrheinische Viertel wie Nippes oder Ehrenfeld im Sinn, als es darum ging, mich mit ihm zu einem Spaziergang zu verabreden, bei dem er mir interessante Projekte und Initiativen rund um das Thema Nachhaltigkeit zeigen wollte.
Kennengelernt hatte ich Olivér wenige Monate zuvor auf einer Reisemesse in Berlin. Er stellte dort seine neue App vor, die 600 Adressen von Menschen und Initiativen in Köln bündelt. Verbindendes Merkmal: Nachhaltigkeit. Mein Interesse erwachte, weil ich als Buchautor – und Verfasser eines Städteführers über Köln – immer auf der Suche nach interessanten Kontakten bin. Hinzu kommt, dass dem Michael Müller Verlag das Thema Nachhaltigkeit am Herzen liegt, was unter anderem die Hervorhebung nachhaltig wirtschaftender Unterkünfte, Lokale und Einkaufsadressen in den Büchern zeigt. Kurzum: Olivér und ich hatten einige gemeinsame Interessen, sodass wir uns bei meinem nächsten Besuch in der Domstadt zum Spaziergang verabredeten.
Köln-Mülheim ist der bevölkerungsreichste Stadtteil der Rheinmetropole mit einem bunten Mix verschiedenster Nationalitäten, wobei türkischstämmige Einwanderer den Ton angeben. Hauptflaniermeile ist die Frankfurter Straße, die vom Wiener Platz nach Südosten führt. Namhafter ist jedoch die Keupstraße, die mit ihren vielen türkischen Restaurants und Imbissbuden ungeheuer exotisch wirkt. Traurige Berühmtheit erlangte sie beim Nagelbombenanschlag am 9. Juni 2004, bei dem 22 Menschen verletzt wurden. Drahtzieher des Anschlags war die rechtsterroristische NSU-Gruppe. Dass die meisten Köln-Besucherinnen und -Besucher das Viertel meiden, hat jedoch andere Gründe: Köln-Mülheim liegt etwas abseits und dazu noch auf der „falschen“ Rheinseite. Wer nur zwei oder drei Tage in der Stadt ist, wie die meisten Gäste, hat linksrheinisch mehr als genug zu tun! Die Lage ab vom Schuss begünstigt andererseits das organische Wachstum einer alternativen Subkultur, die hier von vergleichsweise niedrigen Mieten profitiert. Und aus eben diesem Grund wählte Olivér dieses Viertel für unseren gemeinsamen Spaziergang aus.
Nach einer herzlichen Begrüßung biegen wir vom Wiener Platz in die Buchheimer Straße ein. Früher war die schmale Straße eine „Messerstecher-Gegend“, wie Olivér schmunzelnd verrät. Heute geht es hier gesittet zu. Im Windschatten der breiten Magistralen, die das Viertel durchziehen, siedelten sich kleinere Geschäfte, Ateliers und Handwerksbetriebe an, die zwar auf Laufkundschaft verzichten, sich dafür aber über niedrige Mieten freuen. Wir passieren einen Secondhand-Laden, der seine Schätze hinter einem großen Metallgitter hütet, ein Geschäft, das gebrauchte Bücher verhökert (Antiquariat wäre ein wenig übertrieben), wenige Schritte weiter upcycelt ein Tischler Altholz zu kultigen Möbeln in erfrischenden Designs. Ganz schön was los hier! Bei alledem ist die Straße selbst derart unscheinbar, dass ich sie ohne Olivérs Führung wahrscheinlich übersehen hätte. Nebenbei erzählt der gebürtige Ungar, wie er über Göppingen nach Köln gelangte und zunächst in einer Event-Location in Köln-Müngersdorf arbeitete. Auslöser für sein „ökologisches Erwachen“ war eine TV-Doku über Plastikmüll im Meer. Insbesondere das berühmte Bild der Meeresschildkröte mit dem Strohhalm aus Plastik im Mund verfolgte ihn bis in den Schlaf. Er kündigte daraufhin seinen Job und gründete ein Unternehmen für umweltverträgliches Event- und Projektmanagement. Heute beschäftigt „greencentive“ drei Mitarbeitende und gehört zur illustren Gruppe innovativer Firmen, die von der Stadt Köln besonders gefördert werden.
Die Arbeit von „greencentive“ bringt es automatisch mit sich, dass Olivér die meisten Inhaberinnen und Inhaber nachhaltig wirtschaftender Betriebe persönlich kennt. Er kennt ihre Storys und weiß, warum sie das tun, was sie tun. Das gilt auch für die Textildesignerin Alexandra Lenz, die ein Atelier für Siebdruck in einer Seitengasse betreibt. Olivér erzählt, dass die Künstlerin jedes Jahr auf den Balkan reist, um alte Stoffe zu erstehen, die einheimische Bauernfamilien auf Klostermärkten feilbieten. Aus bestehenden Dingen neuartige Produkte fertigen, so Olivér, sei ein wesentlicher Kern der Nachhaltigkeitsidee. Wir betreten den geschmackvoll gestalteten Raum und bewundern die hochwertigen Unikate aus Samt und Leinen. Alexandra erzählt, dass sie Siebdruck-Workshops anbietet, die sich bei den Menschen im Viertel (im „Veedel“, wie die Kölner sagen) steigender Beliebtheit erfreuen. Auch das ist ein Element des Nachhaltigkeitsgedanken: Ich teile das, was ich gerne tue, mit anderen Menschen!
Was sehen wir sonst noch auf unserer Runde? Ein Geschäftslokal mit verklebten Scheiben: Hier hatte kein Geringerer als Karl Lauterbach, der heutige Gesundheitsminister, sein Parteibüro eingerichtet. Das gemütliche Café Jakubowski: der Veedel-Treff für Groß und Klein mit Wohnzimmeratmosphäre, benannt nach einem gewissen Rudi Jakubowski, der im selben Haus im Jahr 1828 das Licht der Welt erblickte. Und nicht zuletzt das weitläufige Gelände der ehemaligen „Felten & Guilleaume“-Kabelwerke in der Schanzenstraße: Im Denkmal der Industriekultur hat unter anderem das Schauspiel Köln eine vorübergehende Bleibe gefunden. Außerdem montiert hier ein Kölner Start-up Lastenbikes, während sich im Hof von März bis November ein Urban-Gardening-Projekt der Umweltbildung widmet. Am Ende unseres Spaziergangs kehren wir zur Buchheimer Straße zurück. Unvermittelt stehen wir am Rhein und blicken über das Wasser. Dabei wird mir klar, wie positiv die grüne Flussuferzone die Lebensqualität der Menschen in Mühlheim beeinflusst. Fast eine Binsenweisheit: Grünzonen sind ein wesentlicher Teil von nachhaltiger Stadtentwicklung!