Lisa Kügel ist unsere Expertin für La Gomera. Die studierte Geografin und Germanistin hat ihren Reiseführer zur einstigen Hippie-Insel ausführlich vor Ort aktualisiert – und den Debüt-Artikel für die neue Reportagen-Serie »Nachhaltig unterwegs« geschrieben. Doch statt große Meeressäuger zu beobachten, geht es auf eine »Tümpel-Safari«. Was das ist? Gar nicht so ungefährlich, wie es sich anhört …
Volker ist gefesselt. Seine rechte Hand ist umsponnen mit einem zähen Faden, der den Fingern kaum Spielraum für Bewegung lässt. Nicht nur mein vierjähriger Sohn blickt mit staunenden Augen zu Volker auf. Nicht auszudenken, wäre unser Guide kein ausgewachsener Meeresbiologe, sondern ein Fischlein auf der Suche nach einem leckeren Happen …Nicht in fremden Löchern stochern, denn du weißt nie, was oder wer sich dort verbirgt! Das haben wir heute gelernt. Und dass die oft unscheinbaren Lebewesen, die auf Steinen, in Ritzen und Höhlen der kleinen Tümpel vor der Südwestküste La Gomeras leben, den Stoff für eine ganze Krimireihe liefern könnten.
Es muss nicht immer Wal-Safari sein!
Bei Wanderungen zeigt sich die Säugetierwelt mit den (eingeschleppten) Vertretern Hund, Katze, Ziege; die viel beklagten Kaninchen entdeckt man meist nur auf der Speisekarte. Nicht gerade die erste Wahl für eine Safari möchte man meinen? Nun, zumindest nicht zu Lande. Spektakulär ist ein Ausflug mit einem der Walbeobachtungsschiffe. In den Gewässern zwischen Gomera und der Nachbarinsel Teneriffa herrschen perfekte Bedingungen zur Beobachtung großer Meeressäuger. Weniger bekannt, aber ebenso spannend, ressourcenschonender und auch für weniger seefeste Reisende geeignet, ist eine Tour durch das Fels-Watt in den Schutzgebieten im Valle Gran Rey.
Ein Meeresbiologe, der auf Essbarkeit untersucht wird
Zusammen mit Volker Boehlke vom Tourenanbieter GOMERA VIVE! stehen wir pünktlich zur Ebbe auf den schwarzen, nass glänzenden Felsen im Schutzgebiet Charco del Conde. Der Atlantik hat sich gerade zurückgezogen und rauscht weit draußen. Vor uns liegen Pfützen und Tümpel, die Himmel und Wolken spiegeln.Schon ist Volker auf den Knien, und meine Familie und ich tun es ihm nach. Gespannt starren wir in den ersten Tümpel. Hier »wehen« die durchscheinenden Tentakel einer Seeanemone im Wasser – Achtung, Nesselfäden-Beschuss! Dort tummelt sich lustig ein Grüppchen Garnelen. Vorsichtig hebt Volker den Stein, der der Seeanemone als Zuhause dient, aus dem Wasser. Ihre Ärmchen hängen nun schlaff und schleimig herunter, saugen sich aber bei Berührung sofort an den Meeresbiologen-Finger, um ihn unerschrocken auf Essbarkeit zu untersuchen. Wir bestaunen den Mund dieses Blumentieres, das nach kurzer Zeit wieder an seinem angestammten Platz abgesetzt wird, wo die wundervollen Tentakel zum Abschied winken.Weiter wandern wir, von Tümpel zu Pfütze zu Tümpel. Volker lebt, forscht und arbeitet schon seit Jahrzehnten auf den Kanaren, und wir könnten seinen Geschichten vermutlich tagelang lauschen. Wir saugen sie auf, wie unsere Hosenbeine das Meerwasser.
Die Tinte des Seehasen
An den Wasserstellen verharrt die Safari-Truppe aber still. Achtsam und geduldig beobachten wir die Welt unter der Wasseroberfläche. Lange müssen wir nicht warten, bis Volker uns wieder auf ein neues Lebewesen aufmerksam macht. So langsam wird auch der Laien-Blick geschulter, und wir stellen jede Menge Fragen zu Napfschnecken, Einsiedlerkrebsen, Schlangensternen und Seeigeln. Volker achtet sehr auf die Unversehrtheit der Tiere, aber auch der Teilnehmer. Wie die Anemone haben auch die anderen Tümpelbewohner oft die erstaunlichsten Abwehrmethoden und können beim Menschen mehr oder weniger starke Hautreizungen herbeiführen.
Sehr stolz bin ich, als mein Sohn plötzlich von einer Wasserstelle ruft, »Hier ist etwas!«. »Du hast recht, ein Seehase«, meint Volker interessiert. Halb versteckt unter einem kleinen Felsvorsprung klebt ein perfekt getarntes, handtellergroßes, graubraungesprenkeltes Etwas. Der Seehase ist eine Schnecke, die ihren Namen wohl den Fühlern auf ihrem Kopf verdankt. Mit etwas Vorstellungskraft ähneln sie Hasenohren. Als Volker das Tier vorsichtig auf seine Hand nehmen möchte, färbt sich das Wasser mit einem Mal lila – die Seehasen-Schnecke hat Tinte abgeben! Wir sind hin und weg.
Unbemerkt vor unseren Augen
Die Flut setzt ein, und langsam füllen sich ganze Rinnen mit Wasser, aber Volker wandert unbeirrt in Richtung Meer hinaus. Weit draußen vor der Küste, umgeben von laut heranrollenden Wellen und Weißwasser, scheint er wieder einmal genau zu wissen, wohin er fassen muss und hebt eine schwarze, lange Seegurke aus ihrem Versteck. Vorsichtig bewegt er sie in seiner Hand hin und her. Wir beobachten, wie seine Finger hinter dem hellen Fadengewirr verschwinden, mit dem diese vermeintlich simple, schwarze Wurst ihre Feinde verschreckt.Mit triefenden Schuhen stehen wir zuletzt wieder am Ufer. Den Kopf voller Bilder und Geschichten, den Blick geschärft für die Wunder der Natur. Und irgendwie fassungslos ob des Wissens, welches Leben sich hier abspielt, direkt vor unseren Augen und dennoch bisher unbemerkt.
Reisepraktische Tipps
GOMERA VIVE! Meeresbiologe Volker zeigt auf seiner Tümpel-Safari großen und kleinen Entdeckern die Welt der Lebewesen, die den Uferbereich im Valle Gran Rey bewohnen. Seine Führung untermalt er mit Faktenwissen und spannenden Geschichten, die in jedem Fall Eindruck hinterlassen. Tour etwa 1,5 Stunden, Erwachsene 20 €, Kinder 10 €. Termine und Anmeldung unter www.gomeravive.com.