Einige Spezialisten kennen Achim Wigand bereits von seinem Debüt, dem Reiseführer »Montenegro« (1. Auflage 2006). In die blauweißen (und alle anderen) Herzen hat sich der Wahl-Münchner mit dem reisepraktischen Handbuch zur Landeshauptstadt geschrieben: »München MM-City« (1. Auflage 2009). Doch wie verhält es sich mit der viel gepriesenen bayerischen Lebensqualität, wenn man dort wirklich wohnt? Gibt es noch die Münchner Schickeria? Wie lautet die Top Ten der Dinge, die man bei einem München-Besuch unbedingt machen sollte? Und welcher der zahlreichen Biergärten ist eigentlich der beste? Unser Autor hat alle Fragen geduldig – und mit viel Witz – beantwortet.
1. Bayern bewundert man – im außerbayerischen »Ausland« – gerne, weil der Spagat zwischen Traditionalität und innovativen Ideen geklappt hat. Welche Erfahrungen haben Sie, der lange in Franken gelebt hat, mit München gemacht? Oder anders: Wie viele Schweinshaxn durften Sie in direkter Tischnähe zu einem Global Player genießen, der neben dem Zerteilen eines Knödels aufgeregt in sein iPhone® tippte?
Wenn man den Münchnern ihren Kinderglauben an ihre gottgegebene Überlegenheit im gesamtbayrischen Kontext lässt, funktioniert die Teilnahme am sozialen Leben doch ganz gut. Gelegentlich eine Loddar-Maddäus-Parodie einstreuen und einmal »Läbkoung« sagen und die Stimmung kippt ins Bemutternd-Freundliche.
Was nun die heavy-user von iPhone®- und MacBook® angeht, da gilt das alte Münchner Sprichwort: Wo nicht der Apfel leuchtet, da kannst du lustig sein, nur böse Menschen sind dauerhaft online. Mail- und News-Junkies wirken in den meisten Münchner Gasthäusern genau so albern wie im Rest des Bundesgebiets. Der aktiven Teilhabe am Nachtleben versichert man sich auch bei uns am besten durch urtümliche Basisaktivitäten: Bier trinken und einen rechten Schmarrn daherreden. Das gilt auch – letzteres ganz besonders – für Global Player (wenn man denn einen echten findet): Die liberalitas bavariae hat, bei allem Standesdünkel, auch etwas Egalitäres.
2. Nach diesem Buch kennen Sie jede Ecke Münchens. Was gefällt Ihnen am besten in der Landeshauptstadt? Warum soll man die selbst ernannte »Weltstadt mit Herz« zumindest einmal in seinem Leben besucht haben?
Ganz sicher gibt es da die lange Liste mit den all-time-classics: Residenz, Frauenkirche Nymphenburg, Pinakotheken und so fort. Das mag nicht so besonders individuell klingen, absolut sehenswert ist das Quasi-Pflichtprogramm deswegen nicht minder. Als Einheimischer verirrt man sich naturgemäß seltener an diese Spots, deshalb hier meine ganz persönlichen und absolut münchen-spezifische Top Ten:
1. Mit einer neuen Liebe/einer zufälligen Abendbekanntschaft/einem Wildfremden um zwei Uhr nachts kräftig angetrunken im Wittelsbacher Brunnen baden. Natürlich nackt. Deswegen am besten im Sommer!
2. Schlittschuhlaufen auf dem Nymphenburger Schlosskanal. Geht leider nur ganz selten.
3. In der Radlfurt zwischen Max-Joseph-Platz und Marienhof verträumte Passanten zur Seite klingeln. Nicht den Hund überfahren!
4. Ein bis in den späten Abend vertrödelter Nachmittag an der Isar, vorzugsweise Nähe Reichenbachbrücke, Wittelsbacher Brücke oder Flaucher: Hier gibt’s Kioske für den Biernachschub.
5. Die Wiesn: Ja klar, es ist sauteuer, dreckig, elend voll und durch und durch barbarisch. Aber trotzdem immer wieder unvergleichlich lustig. Besonders zu empfehlen für alle, die meinen, das wäre nichts für sie.
6. Eine schöne und bezahlbare Wohnung im Innenstadtbereich finden.
7. Jungkreative Medienschaffende bei ihrem entkoffeinierten Frapuccino Latte in einem Café im Glockenbachviertel belauschen. Noch steigerbar, wenn man sich als steinreicher Produzent ausgibt.
8. Einen überzeugten Hacker-Trinker zum Augustiner bekehren. Oder umgekehrt.
9. Biergarten! S.u.
10. Japanische Touristen auf der Suche nach dem Karlsplatz (Stachus) an den Karl-Preis-Platz (ziemlich trostlose Freifläche in Ramersdorf) lotsen. Nicht nett, aber besonders lustig, wenn man sie dort wieder abpasst …
Fazit: Sicher kenne ich in München ganz viele Ecken – und auch Kurven, Gerade und Kanten. Aber jede? Bestimmt nicht. Das Hasenbergl (eine Wohngegend im Norden mit bemerkenswert geringem Sozialprestige) oder Grünwald (eine Wohngegend im Süden mit gewaltigem Prestige) sind mir doch immer noch ziemlich fremd. Ich verstehe das als Verpflichtung und Herausforderung, für weitere Auflagen schließe ich da kategorisch nichts aus.
Was mir nun am besten gefallen hat, kann ich so nicht beantworten! Bestimmt hat meine Zuneigung zu dieser Stadt aber mein letzter Umzug deutlich beflügelt. Mit einem Hauptquartier mitten im Glockenbachviertel lässt sich die München-Rendite schon wunderbar realisieren: Szene, Isar, Nachtleben, Bars, schräge Vögel, Top-Shopping – wem nicht gerade der Einsiedler-Bergbauernhof als Ideal vorschwebt, sollte sich hier schon arrangieren können. Wenn’s doch bloß ein bisschen billiger wäre … andererseits: dann wär’s nicht München sondern der Prenzlauer Berg an einem weitläufig umgeleiteten Seitenarm der Isar. Und dafür müsste man dann nicht nach München kommen und das sollte man. Schon allein wegen des unnachahmlichen Amalgams von gelassener Heiterkeit und existentieller Blasiertheit, prachtvollem Hochbau und Natur, Weißbier und Champagner.
3. Die Münchner Schickeria ist deutschlandweit bekannt; nicht ohne Grund haben die Spider Murphy Gang diesem Phänomen einen Song gewidmet. Was hat es mit dieser sozialen Gruppierung noch heute auf sich?
Jede Stadt hat ihre Lackl, Berufssöhne und Nassauer – nur in München heißt der Zoo halt Schickeria. Allerdings räumen wir Münchner unseren Party-Wichteln doch eine erstaunliche Diskurshoheit ein; ich bezweifle beispielsweise, dass kleinsthundtragende Betonfrisurschreckschrauben zu aktuellen Stadtereignissen auf der Titelseite einer Hannoverschen Tageszeitung ernsthaft zitiert würden. Wir machen so was. Wahrscheinlich ein Auswuchs, der nur sehr mäßig camouflierten Adelssehnsucht der Bayern (wie es ja auch schon Franz Josef Strauß immer wieder vorgelebt hat, vor allem, was seine eigene Person betraf …).
Angefangen hat der ganze Quatsch möglicherweise erst in den späten 70ern, als die wilden Schwabinger aus ihren Stammquartieren von Wochenend-Vorort-Strizzis vertrieben wurden und sich das Epizentrum des Münchner Nachtlebens am Maximliansplatz festsetzte. Als erster Club, der so richtig stolz auf seine superharte Tür war, gilt Kennern der Münchner Partygeschichte das Maximilian’s – ein heute zu Recht vergessener Laden. (Prima Nachlesen kann man das übrigens im jüngst erschienenen Bildband Mjunik Disco, einem formidablen Bilderbuch aus dem sympathischen Blumenbar-Verlag über die Geschichte der Abendunterhaltung bei laut reproduzierter Musik seit 1945.) Dass aber nun in jeder Kneipe und in jedem Club die gleisnerischen Reflexe von Gucci-Gürtelschnallen und der funkelnde Strass auf Prada-Pumps die Augen ehrlich exzessgewillter Barflies blenden würden, ist ein gern gelesener Spaltenfüller des deutschen Pressewesens. Coole, cool verranzte oder auch nur verranzte Boazn, Bars und Musiklokale stechen die In-Spots der Haute Volée nicht nur zahlenmäßig deutlich aus. Vielleicht nicht innerhalb des Altstadtrings. Obwohl: gerade dort.
4. Sie haben nicht nur Sehenswürdigkeiten getestet, sondern auch die schönsten Münchner Biergärten kennen gelernt. Der nächste Sommer kommt bestimmt; deshalb unsere neugierige Frage – welcher ist denn der beste und warum?
Zum Glück kann man das mit letzter Bestimmtheit nicht beantworten, eine unangefochtene Nr. 1 unter den Biergärten wäre wegen chronischer Dauerüberfüllung als Tipp praktisch wertlos; bis an Belastungsgrenze übervoll sind sie an schönen Sommerabenden sowieso schon alle. Außerdem findet sich an jeder Freischankfläche, die den ergänzenden Maßgaben zu § 23 Abs. 2 Satz 1 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes genügt (umgangssprachlich auch: Bayerische Biergartenverordnung), irgendwo eine Fliege im Maßkrug. Der Biergarten des Hofbräukellers am Wiener Platz (nicht zu verwechseln mit dem Hofbräuhaus!) beispielsweise gehört wegen seiner Lage mitten in der Stadt und dem tollen Ambiente in den Ausläufern der Maximiliansanlagen sicher in die Spitzengruppe der Biergärten – wäre da nur nicht das Bier mit Kopfschmerzgarantie! Ähnliches gilt auch für den superclásico des Genres, den Biergarten am Chinesischen Turm im Englischen Garten. Hier trinken übrigens mitnichten ausschließlich japanische und amerikanische Touristen den algogenen Gerstensaft.
Biertechnisch eindeutig auf der sicheren Seite ist man im Augustiner Biergarten an der Arnulfstraße; die relativ prosaische Umgebung zwischen Hauptgleiskörper und Funkhaus ist unter den riesigen Kastanien praktisch nicht wahrnehmbar. Hungrige Trinker sollten sich aber besser etwas zu essen mitbringen, das Speisenangebot ist qualitativ allerhöchstens medium und gar nicht mal billig. Eine Klage, die übrigens in den meisten Biergärten geführt werden kann; es ist durchaus sinnvoll, den prall mit selbst bereiteten Schmankerl gefüllten Brotzeitkorb mitzubringen. Ausnahme: Für den Biergarten an der Muffathalle kann man getrost die Fleischpflanzerl im Kühlschrank lassen und der Kartoffelsalat ist fast so gut wie der meine. Ja, Sie hören richtig – der meine! (Falls mich tatsächlich doch noch einmal ein verwirrtes Frauenzimmer ehelichen sollte, dann wegen meines Kartoffelsalats. Und wegen meiner Lammkeule. Erst recht wegen des Kaiserschmarrns.) Das Platzangebot ist aber sehr begrenzt und a bisserl stimmungsvoller könnte es schon auch noch sein. Erstaunlich brauchbar essen kann man auch im riesigen Hirschgarten; trotz seiner 8.000 Plätze gar nicht die Abfüllfabrik, an die man bei dem Prädikat »größter Biergarten der Welt« so denken könnte. Spitzenplätze bei der Wahl zum schönsten Biergarten der Stadt, einer alljährliche Leserbefragung der Abendzeitung, belegt traditionell der Paulaner Biergarten am Nockherberg. Meine ästhetisch empfindsame Kampftrinkerrunde findet aber, dass die Sanierung nach dem Großbrand 1999 und das viele Geld aus der Versicherungssumme den Platz etwas sehr geleckt und klinisch haben werden lassen.
Ganz eigene Qualitäten zeigen die weiter außerhalb liegenden Biergärten, z. B. Menterschwaige, Aumeister oder Flaucher, wo man tatsächlich ziemlich im Grünen trinkt. Allerdings wird es hier – besonders in den Gärten der Isarauen – abends deutlich schneller frisch und die paar Kilometer auf dem Radl sind nach der dritten Maß auch gar nicht mehr so lustig.
5. Was hat es mit der viel gepriesenen Münchner Lebensqualität auf sich? Ist ein Aufenthalt in der bayerischen Metropole, immerhin der drittgrößten Stadt Deutschlands, nicht nur spannend, sondern auch erholsam?
Das alte Beton-Problem: Es kommt drauf an, was man draus macht. In zwei Stunden durch die 500 Räume der Residenz zu flitzen, anschließend alle drei Pinakotheken und abends fünf Vorspeisen in vier Restaurants herunterzuschlingen, damit man noch Zeit für alle Hip-Bars in der Altstadt hat – das kann stressig werden. Das vom kühlem Isarwasser des Flauchers umspülte Biertragerl an einem heißen Julitag verspricht da schon mehr Erholungswert – außerdem lernt man da bestimmt mehr Münchner kennen als beim Kultursightseeing entlang der Museumslinie. Generell sind Großstädte natürlich kein Hort der Ruhe und Kontemplation, das gilt für Besucher wie für Ortsansässige und da macht München wahrscheinlich keine Ausnahme. Trotzdem vermittelt die Stadt den meisten Angehörigen beider Gruppen ein doch entschleunigteres Lebensgefühl als die anderen beiden Millionenstädte (das ewig an der Mega-Schwelle laborierende Köln lasse ich jetzt bewusst außen vor). Ein Grund dafür ist vielleicht die recht kompakte Topographie der Stadt: Das urbane Leben konzentriert sich im Wesentlichen innerhalb des Mittleren Rings oder unmittelbar an dessen Außenrändern, und man ist praktisch mit jedem Verkehrsmittel innerhalb einer guten Viertelstunde fast überall – die ewige Zockelei zwischen den recht autonomen Kiezen wie in Hamburg oder Berlin fällt da weitgehend weg. Eine andere, m. E. gewichtigere Ursache ist wohl die recht unmittelbare Nähe zu sowohl landschaftlich als auch freizeitwertig sehr hoch stehenden Gebieten: Die Seen, Voralpen, auch die Alpen sind schon sehr schnell erreichbar und lassen die Stadt rasch vergessen, auch wenn sich an schönen Tagen ganze Stadtviertel auf der Benediktenwand oder am Ammerseestrand wieder treffen. Für manchen zählt das aber alles nicht: Ein im Finanzsektor sehr vielbeschäftigter Freund ist beispielsweise der Meinung, in Berlin (wo er sich tatsächlich auch oft aufhält) ein deutlich relaxteres Stadtklima vorzufinden – mit dieser Ansicht ist er allerdings nicht nur in meinen Augen ein ziemlicher Exot.