Wie geht Erinnerungskultur? Was kann damit – ganz konkret – erreicht werden? Oder gerät sie, mehr als 70 Jahre nach der nationalsozialistischen Diktatur, eher zu einer Floskel? Marcus X. Schmid hat genau hingesehen – und ein vergessenes, dank eines Orkans wiederentdecktes Arbeitslager der deutschen Besatzer besucht; 2013 und 2016. Was sich dabei ereignet hat, erzählt er packend in unserer On Tour-Kolumne.
Die Geschichte beginnt mit einer Zeitungsnotiz, entdeckt auf einer Recherche-Tour, die ich im September 2013 durch Südwestfrankreich unternahm, um mein Buch für eine neue Auflage zu aktualisieren. Den Arbeitstag zur frühen Stunde in der Bar mit Kaffee und Regionalzeitung zu beginnen, war mir längst zur lieben Gewohnheit geworden. An diesem Septembertag im Kurort Dax weckte erst der Kaffee meine Lebensgeister, dann stach mir eine kurze Nachricht des »Sud-Ouest« in die Augen. Ein lokaler Verein im nahen Örtchen Buglose präsentiere zu den zweitägigen »Journées du patrimoine« (»Tage des Kulturerbes«), wenn in ganz Frankreich die Museen Gratiseintritt gewähren, die Funde eines Arbeitslagers, das die Deutschen dort im Zweiten Weltkrieg unterhielten.
Mit Pickel und Spaten der lokalen Geschichte zu Leibe rücken
Ich war bereits am Vorabend der Veranstaltung an Ort und Stelle, genauer gesagt, auf einem Feld außerhalb von Buglose. Hinter dem rekonstruierten Eingangstor »ARBEIT Kommando BUGLOSE« bauten einige Männer und Frauen, fast alle im Rentenalter, lange Holztische auf, bedeckten diese mit weißen Laken, auf denen die Funde auslagen: Blechgeschirr, verrostete Pistolen, Feuerzeuge, Zahnpastatuben, Münzen verschiedener Nationen und mehr – jeder Gegenstand mit einer Nummer versehen, einige mit einer kurzen Erklärung. Auf dem weiten Feld dahinter waren die Grundmauern einstiger Baracken und eines Friedhofs freigelegt.
Pierre Houpeau, über 75 Jahre alt, und seine Frau Régine Daguinos gehören zum harten Kern des Vereins »Mémoire du Camp de Prisonniers de Buglose«, der einmal pro Woche mit Pickel und Spaten der lokalen Geschichte zu Leibe rückt. Sie erzählten mir nicht nur, wie es zu dieser einzigartigen Ausgräber-Unternehmung kam, sondern klärten mich auch über die Hintergründe auf.
»Klaus« und die Folgen
2009 stürmte der Orkan »Klaus« durch Südwestfrankreich. Als er vorüber war, hatte er in Buglose zahlreiche Bäume umgelegt – und den Blick auf einige Mauerreste frei gegeben. Die alten Leute von Buglose hatten es schon als Kinder gewusst: Hier befand sich ein Arbeitskommando der Nationalsozialisten. Der Hintergrund: Die Deutschen hatten ihre französischen Kriegsgefangenen nach Deutschland verschickt, bald aber Probleme mit den nichtweißen Soldaten der französischen Armee bekommen, mit Männern aus den Kolonien, aus dem Maghreb, aus Schwarzafrika und aus Übersee. Die Besatzer (und die Nationalsozialisten zu Hause) fürchteten, die dunkelhäutigen Gefangenen könnten Tropenkrankheiten nach Deutschland einführen oder, schlimmer noch, das Blut der arischen Rasse verunreinigen … Also wurden vor Ort spezielle Arbeitslager für nichtweiße Gefangene errichtet, eines davon in Buglose. Wie viele Insassen hier an Krankheit starben oder ermordet wurden, ist nicht bekannt.
Ironie der Geschichte: Nach der Befreiung Frankreichs waren es die deutschen Soldaten, die in »ihr« Arbeitslager eingesperrt wurden. Etliche von ihnen arbeiteten noch bis 1947 auf den umliegenden Feldern. Danach wurde das Lager aufgelöst. Die Bauern griffen zu; Holz und was sonst noch alles brauchbar war, wurde mitgenommen. Was keine Verwertung fand, überließ man der Natur, die bald eine vegetative Decke über die unheilvolle Vergangenheit legte – bis »Klaus« kam und die Decke wegriss.
Unerwartete Post
Nach meinem Besuch im September 2013 blieb ich mit Pierre und Régine in losem Kontakt. Über das »Echo du Camp«, das Informationsblatt des Vereins, erfuhr ich Neuigkeiten aus Buglose, unter anderem, dass die geplante Hochgeschwindigkeitstrasse für den TGV Bordeaux-Hendaye (Baubeginn ca. 2027) mitten durch das Camp führen soll. Inzwischen schrieb auch die »Berliner Zeitung« über das Camp in Buglose. Auf ihren Artikel »Die vergessenen Soldaten« meldete sich ein Leser aus Leipzig bei der Redaktion. Sein Vater wäre in Buglose inhaftiert gewesen, er möchte mit dem Bugloser Verein in Kontakt treten. Und irgendwann kam in Buglose ein kleines Paket an. Der Mann aus Leipzig hatte sich von seinem Vater erzählen lassen, wie es damals in Buglose zuging, hatte dessen Erinnerungen ins Französische übersetzen lassen und zu einer Broschüre gebunden.
Im September 2016 – neue Recherchen für mein Südwestfrankreich-Buch standen an – war ich wieder in Buglose. Pierre und Régine bereiteten mir einen herzlichen Empfang, bewirteten mich fürstlich und erzählten mir von den Fortschritten der Ausgrabungen.
Zwei Tage später finden die »Journées du patrimoine 2016« statt, und ich kehre nochmals nach Buglose zurück. Mittagspause: Hinter dem rekonstruierten Lagertor ist das Team mit einer Grillade beschäftigt. »Hast Du Deinen Teller mitgebracht?« fragt mich einer, der mich noch von meinem früheren Besuch kennt, und stellt mir ein Glas Rotwein hin. Besucher kommen vorbei, manchmal ganze Gruppen – insgesamt ein paar hundert Neugierige an zwei Tagen. Die Ausgrabungen sind in den drei Jahren fortgeschritten, die Funde mehr geworden. Eine Führung durch das Gelände dauert gut eine Stunde. Trifft eine Gruppe ein, so steht einer der Ehrenamtlichen auf: »Diesmal übernehme ich.« Abends ist das Team erschöpft, aber zufrieden.
Die Suche geht weiter
Auch ein Afrikaner ist gekommen, dessen kürzlich verstorbener Vater vor über siebzig Jahren in Buglose einsaß. Für Pierre, der viel in Archiven geforscht und nach Namen gesucht hat, ist das nach der Leipziger Broschüre ein weiteres Steinchen im historischen Mosaik, das der Verein in eifriger Kleinarbeit zusammensetzt. Sicher gibt es noch mehr Buglose-Überlebende – in Afrika, im Maghreb oder in Deutschland –, die nichts von der Initiative in Buglose wissen, aber Zeugnis ablegen, den Toten Namen geben könnten. »Ein Zeuge, das ist ein Zeugnis – fünf Zeugen, das ist Geschichte«, schrieb der Schriftsteller und einstige Kulturminister André Malraux, den man als einen der geistigen Väter der »Journées du patrimoine« bezeichnen könnte.
Französische Politiker reden gerne von der »Culture de la Mémoire«, der Erinnerungskultur, besonders gern am 8. Mai, dem »Tag des Sieges«, oder eben während der jährlichen »Journées du patrimoine«. Oft ist die viel beschworene Erinnerungskultur allerdings kaum mehr als eine Floskel. In Buglose zeigt eine kleine Rentnergruppe in überzeugender Weise, dass es auch anders geht – chapeau!