Reportage

Die Religion der Kunst und der Liebe

Was macht ein Universalgenie in einer eher biederen Stadt? Er entwirft einen Hochzeitssaal, den fortan sogar Japaner ansteuern. Ganz klar, Jean Cocteau (1889-1963) hat die französische »Zitronenstadt« Menton bereichert. Jetzt machte die Stadt ihm und sich selbst ein Geschenk – und eröffnete ein architektonisch einfallsreiches Museum zu Ehren des Malerpoeten. Reisejournalist Ralf Nestmeyer hat die französische Mittelmeerküste während seiner Recherchen für die Neuauflage von »Provence & Cote d’Azur« (9. Auflage 2012) bereist – und ist auf spannende Spuren von Cocteau und anderen Künstlern gestoßen.


Wer in den Abendstunden die Meerespromenade von Menton entlang schlendert, könnte meinen, ein mysteriöses Ufo sei gelandet. Die hell erleuchteten Fenster erinnern an lodernde Flammen, die sogar etwas Unheimliches an sich haben. Doch weit gefehlt: Es ist kein Außerirdischer, der hier »gelandet« ist, sondern das Universalgenie Jean Cocteau.

Am 6. November 2011 wurde in Menton das neue Cocteau-Museum eröffnet, ein futuristischer Neubau, den der Architekt Rudy Ricciotti entworfen hat. Mit seiner arabesken Formensprache erinnert das Gebäude an eine gigantische Meeresspinne; es beherbergt die Cocteau-Sammlung des belgischen Mäzens Séverin Wunderman, der der Zitronenstadt mehr als 1.800 Objekte in Form von Zeichnungen, Fotografien, Manuskripten, Grafiken, Ölgemälden und Skulpturen geschenkt hat.


Japanische Hochzeitsreisende in Menton

Italienisches Flair – die Zitronenstadt Menton
Italienisches Flair – die Zitronenstadt Menton

»Zwischen Jean Cocteau und Menton gibt es schon lange eine enge Verbindung, aber jetzt wird man beide Namen in einem Atemzug nennen«, erhofft sich Patricia Mertzig vom Office de Tourisme und erzählt, dass Cocteau bereits 1957 vom damaligem Bürgermeister Francis Palmero ermuntert worden war, den Hochzeitsaal im Rathaus nach seinen Vorstellungen zu verzieren.

Der Malerpoet ließ sich nicht lange bitten und entwarf eine Alternative zu dem so kargen wie tristen Flair der französischen Standesämter. Als Motive wählte Cocteau eine allegorische Hochzeitsszene mit Anspielungen auf Orpheus und Eurydike, wobei die Stirnseite von einem jungen Paar dominiert wird, das nur Augen für sich selbst zu haben scheint. Und über allem reitet der Dichter auf dem Pegasus …

Cocteaus Hochzeitsaal erwies sich als geschickter Marketingschachzug, um das Image der als bieder geltenden Rentnerstadt aufzupeppen – und er gehört bis heute zu den beliebtesten Sehenswürdigkeiten von Menton. Die Salle des Mariages ist ein faszinierendes Gesamtkunstwerk; es gibt in Frankreich wohl kaum einen schöneren Rahmen für eine Trauung, denn Jean Cocteau hat sogar die Beleuchtung und das Mobiliar bis hin zu den Spiegeln am Eingang ausgewählt. Nicht nur französische Paare geben sich hier das Jawort, sogar aus Japan reisen jedes Jahr rund 20 Touristen an, um vor dem einzigartigen Fresken-Szenario ihre Liebe zu feiern.

Während seiner Malarbeiten im Hochzeitssaal unternahm Jean Cocteau zahlreiche Spaziergänge durch Menton (er rühmte die Altstadthäuser als »erlesene kleine Festungen in Pastellfarben, deren asymmetrisches Äußeres an dasjenige eines menschlichen Gesichtes erinnert«), dabei entdeckte er eine leerstehende Hafenbastion, die ihm gerne zur freien Gestaltung überlassen wurde. Mit eigens entworfenen Mosaiken, Keramiken, Zeichnungen und Bildteppichen verwandelte er die Bastion in ein ganz persönliches Museum, das durch die Sammlung Wunderman kongenial ergänzt wurde.


Wilde Hotelpartys in Villefranche-sur-Mer

Wer an der Côte d’Azur auf Cocteaus Spuren wandeln will, darf sich aber keinesfalls auf Menton beschränken. Wie Matisse und Picasso gehörte auch Jean Cocteau zu jenen Künstlern, deren Leben und Werk eng mit der französischen Mittelmeerküste verbunden ist.

Das legendäre Hotel Welcome in Villefranche
Das legendäre Hotel Welcome in Villefranche

Bereits 1922 hatte Cocteau die Ferien mit seinem früh verstorbenen Schriftsteller-Freund Raymond Radiguet in Le Lavandou verbracht, um sich aber schon bald in Richtung Villefranche-sur-Mer zu orientieren, denn das stufenförmig an einen Hang gebaute Villefranche galt damals als »der« Treffpunkt für Homosexuelle an der Côte d’Azur. Jean Cocteau verweilte mehrere Sommer mit seinen Freunden im damals noch recht einfachen Hôtel Welcome, feilte an seinem Orpheus und vergnügte sich mit jungen Matrosen. »Wir malten, wir schrieben, wir besuchten einander von Zimmer zu Zimmer.«

Für Cocteau müssen es herrliche Zeiten gewesen sein, der Geruch von Opium strömte durch die Flure des »verwunschenen Hotels«, das berühmte Künstlermodell Kiki de Montparnasse stritt sich mit ortsansässigen Huren und wurde an der Bar verhaftet, nachdem sie einen Polizisten geschlagen hatte, der für Ruhe sorgen wollte. Großzügig übernahm der Filmer und Fotograf Man Ray die Strafe, und Kiki wurde wieder auf freien Fuß gesetzt.
In das imaginäre Gästebuch des Hôtel Welcome haben sich auch Oscar Wilde, Charles Baudelaire, Isadora Duncan, Albert Einstein, André Gide und Klaus Mann eingetragen. Noch heute gilt: Die Lage des Hotels ist phantastisch, nur ist alles längst ein wenig schnieker, die teuersten Zimmer begeistern gar mit Schiffskabinenflair …


Die Fresken der Liebe und Lästereien

Menton und Cocteau – eine Liebesbeziehung
Menton und Cocteau – eine Liebesbeziehung

Nur einen Steinwurf weit vom Hotel Welcome entfernt, steht die Chapelle Saint-Pierre. In der kleinen Kapelle, die man lange Zeit nur für die Aufbewahrung von Fischernetzen nutzte, hat Cocteau seine eigene Interpretation des Apostellebens an die Wand gemalt; entstanden ist eine poetische Verbeugung in zarten Pastelltönen. Neben Fischer- und Zigeunermotiven sind Engel und Apostel zu sehen, deren Augen Fischen ähneln. Zu seiner eigenen Gläubigkeit befragt, antwortete Cocteau kokett und überaus selbstbewusst: »Ich glaube an den Gott, der an meine Kapelle glaubt.« Zudem habe er »die Poesie betreten, wie man in eine Religion eintritt. Daher ist die Kapelle von Villefranche religiös.«

Pablo Picasso, der zu den ersten Betrachtern der Fresken zählte und zuvor schon im nahen Vallauris selbst eine Kirche ausgemalt hatte, lästerte über den malenden Dichter: »Jean ist dermaßen versessen darauf, dass über ihn geredet wird, dass er sogar imstande wäre, den Bahnhof Saint Lazare auszumalen.« Und als der Schauspieler Noël Coward zusammen mit Greta Garbo die Kapelle besichtigte, wunderte er sich, dass alle Apostel dem Filmstar Jean Marais so ähnlich sahen, Cocteaus 25 Jahre jüngerem Lebensgefährten …

Die Stadtväter ehrten Cocteau 1989 mit einer Büste, die sie gegenüber dem Hôtel Welcome aufstellten. »Wenn ich Villefranche betrachte, sehe ich meine Jugend«, wird der Dichter zitiert. Die 6. US Flotte mit ihren für ihn so schmucken Matrosen wurde allerdings längst ins italienische Gaeta verlegt und seine Stammkneipe, die ehemalige Bar des Marins, hat sich dem weltumspannenden Lounge-Prinzip unterworfen. Tugend statt Laster.


Eine »tätowierte« Villa in Cap Ferrat

Die alte Hafenbastion beherbergt ein Museum des Malerpoeten
Die alte Hafenbastion beherbergt ein Museum des Malerpoeten

Von Villefranche hinüber nach Cap Ferrat ist es damals wie heute nur ein Katzensprung. Die Halbinsel gehört zu den nobelsten Ecken an der Côte d’Azur. Distinguiertes Flair zwischen hohen abweisenden Mauern. Auf der schmalen, nur wenige hundert Meter breiten Landenge steht die Villa Ephrussi de Rothschild mit ihren berühmten Gartenanlagen. Während sich vor den Toren die Reisenden drängen, interessieren sich nur die wenigsten Touristen für die versteckt gelegene Villa Santo Sospir.

In diesem unbekannten Kleinod am südwestlichen Rand der Halbinsel lebte die Mäzenatin Francine Weisweiller, die Jean Cocteau wiederholt bei seinen Filmprojekten unterstützt hatte. Nachdem Cocteau die anstrengenden Dreharbeiten für »Die schrecklichen Kinder« beendet hatte, lud sie ihn im Mai 1950 in ihre Villa auf Cap Ferrat ein, damit er sich erholen könne. Man genoss einen unbeschwerten Sommer, Jean Marais kam vorbei und bei schönem Wetter segelten sie die Küste entlang.

Um seine Dankbarkeit zu bekunden, begann Cocteau die Wand über dem Kamin zu bemalen. Durch die Begeisterung seiner Gastgeberin angespornt, ließ er seiner Mallust freien Lauf und gestaltete fast sämtliche Wände der Villa mit einem Potpourri aus Fresken, Mosaiken und erotisch aufgeladenen Interieurs. Sichtlich zufrieden befand Cocteau: »Santo Sospir ist eine tätowierte Villa.« Bis zu seinem Tod im Jahre 1963 verbrachte Jean Cocteau nicht nur die Sommermonate auf Cap Ferrat, er drehte hier auch den Film »La Villa Santo Sospir« sowie Szenen für »Le Testament d’Orphée«.
Die Villa Santo Sospir wurde längst unter Denkmalschutz gestellt und zum Monument Historique erklärt. Seit Sommer 2010 ist das Anwesen, das sich noch immer im Besitz der Familie Weisweiller befindet, zu besichtigen. Im Rahmen einer Führung kann man in das Cocteausche Universum eintauchen: eine mediterrane Phantasiewelt mit mythologischen Szenen und Figuren, deren Reiz man sich schwer entziehen kann – warum auch?!


Letzte Arbeiten eines Tausendsassas

Doch es gibt an der Côte d’Azur noch weitere Stationen für Cocteau-Verehrer. So existiert in dem im Hinterland gelegenen Bergdorf Coaraze eine Keramiksonnenuhr, und oberhalb von Cap d’Ail hat der Tausendsassa 1962 im Centre Méditerranéen ein an griechische Vorbilder erinnerndes Amphitheater entworfen und mit Mosaiken verziert. Sein letztes Werk, die mit Fresken ausgeschmückte Chapelle Notre-Dame-de-Jérusalem, liegt einsam in einem lichten Wäldchen oberhalb von Fréjus. Da Cocteau vor der Fertigstellung verstarb, hat sein Adoptivsohn Édouard Dermit das Werk vollendet. Profane und sakrale Darstellungen sind hier auf erstaunliche Weise nebeneinander gestellt. Von der Licht- und Farbfülle wird man als Besucher regelrecht geblendet.


Reisepraktische Informationen

Atout france, de.franceguide.com.

Menton: Office du Tourisme im Rathaus, 06506 Menton, Tel. 0033/0492417676, www.tourisme-menton.fr.

Villefranche-sur-Mer: Office de Tourisme, Jardin François-Binon, 06230 Villefranche-sur-Mer, Tel. 0033/0493017368, www.villefranche-sur-mer.fr.

Hôtel Welcome, Quai de l’Amiral Courbet, Tel. 0033/0493762762; www.welcomehotel.com. DZ ab 105 €.

Rathaus Menton: Rue de la République. Mo-Fr 8.30-12.30 und 14-16.30 Uhr. Eintritt 2 €, erm. 1 €.

Musée Jean Cocteau (Collection Séverin Wunderman): Promenade du Soleil. Tgl. außer Di 10-18 Uhr. Eintritt 6 €, erm. 3 € (Kombiticket).

Musée Jean Cocteau au Bastion: Quai Napoléon III. Tgl. außer Di von 10-12 und 14-18 Uhr. Eintritt 6 €, erm. 3 € (Kombiticket).

Chapelle Saint-Pierre: Quai de l’Amiral Courbet. Tgl. außer Mo 10-12 und 14-18 Uhr. Eintritt 2,50 €, www.villasantosospir.fr.

Villa Santo Sospir: 14, avenue Jean Cocteau. Nur nach Anmeldung unter Tel. 0033/0493760016 oder santosospir@aliceadsl.fr. Eintritt pro Pers. 12 €.

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