Ein Artikel von Eberhard Fohrer, dem Autor unseres Reisehandbuchs zu »Lanzarote«. Der bekannte Reisejournalist entwirft ein stimmungsreiches Bild der Insel aus historischer und heutiger Sicht.
Etwas unscheinbar und bescheiden liegt die Sand- und Vulkaninsel La Graciosa – zu Deutsch »die Anmutige« – an der nördlichen Peripherie Lanzarotes. Jahrhundertelang diente sie lediglich als Piratenversteck und war völlig unbewohnt. Erst als der Naturforscher Alexander v. Humboldt am 17. Juni 1799 hier im Rahmen seiner großen Südamerikareise von Bord ging, fiel erstmals ein wenig Aufmerksamkeit auf die kleine Nachbarin: »Ganz unbeschreiblich ist das Gefühl des Naturforschers, der zum ersten Mal einen außereuropäischen Boden betritt …«, notierte der Wissenschaftler fasziniert (A. v. Humboldt, Südamerikanische Reise). Im 19. Jh. schließlich verewigte der englische Schriftsteller Robert Louis Stevenson (1850-1894) La Graciosa in seinem Weltbestseller »Die Schatzinsel«.
Folgende Story soll ihn inspiriert haben: Ein englisches Piratenschiff, überreich mit Gold beladen, ankert vor La Graciosa. Andere Freibeuter wollen den Engländern den Schatz abjagen, doch bevor es zum Kampf kommt, können diese das Gold vergraben. Selbst unter der Folter geben sie das Versteck nicht preis. Nur ein Schiffsjunge überlebt das Massaker, erst im hohen Alter verrät er das Geheimnis, kann aber keine genauen Angaben mehr über den Standort machen …
La Graciosa heute: Ein kahles Wüsteneiland am Ende der Zivilisation, kein Tropfen Wasser im Boden, vertrocknete Steppe mit höchstens kniehohen Gewächsen, sandbedeckte Vulkankegel, Staub und Treibsand, wohin man blickt. Es gibt nur zwei Orte, den beschaulichen Hafen Caleta del Sebo und die winzige Feriensiedlung Pedro Barba, die nur im Sommer bewohnt wird.
Im Winter leben knapp 600 Menschen auf der Insel, im Sommer steigt ihre Zahl wegen Verwandten- und Urlaubsbesuchen aufs Doppelte. Caleta del Sebo wirkt auf den ersten Blick wie aus einer anderen Welt. Mit seinen flach hingeduckten, weißen Häusern und breiten, sandigen Pisten scheint es einem Wildwestfilm entsprungen zu sein. Kein Stückchen Asphalt verunstaltet den Ort, überall läuft man auf Sand – Ruhe und Gelassenheit liegt über allem.
Einer groß angelegten touristischen »Eroberung« hat sich das Eiland bislang erfolgreich widersetzt. Keine »inseltypische« Großanlage verunstaltet die Insel, keine klimatisierten Tourbusse röhren über die bescheidenen Pisten, die Verpflegungsmöglichkeiten sind an zwei Händen abzuzählen. Allerdings vermieten mittlerweile viele Familien Apartments; auch Neubauten werden in steigender Zahl errichtet.
Hauptsächlich naturverbundene und Ruhe suchende Seelen kommen bisher nach La Graciosa: Rucksacktouristen, Wanderer, Mountainbiker, junge Leute mit Gitarre und Surfbrett unterm Arm. In den Sommerferien bevölkern dagegen viele spanische Familien das karge Eiland. Die Preise für Kost und Logis sind gegenüber der »großen Schwester« bisher noch günstig. Doch für die nächsten Jahren stehen die Zeichen auf Expansion – Augenmaß wird nötig sein, um das bisherige Ambiente zu bewahren!
Das gemächliche Inselleben steckt an: Man bummelt am Hafen umher, begutachtet die neuen Gesichter, die mit der Morgenfähre von Orzola im Norden Lanzarotes herübergekommen sind oder schaut in einer der kleinen Cafeterias vorbei. Die Tage verlaufen ohne große Ereignisse: Fischer sind beschäftigt mit der Wartung der Boote oder reparieren ihre Reusen, alte Männer sitzen auf den Bänken an der kleinen Hafenpromenade und plauschen, Frauen schrubben die blau gestrichenen Türen und Fenster, die Kinder plantschen am kleinen Ortsstrand. Ein wenig Betriebsamkeit entsteht nur, wenn mehrmals täglich das Schiff aus Lanzarote einläuft. Fast immer haben die Insulaner jemanden zu empfangen oder zu verabschieden, oder man kommt einfach nur zum Schauen: das Boot als gesellschaftlicher Mittelpunkt des Insellebens. Doch manchmal wartet man vergebens – dann hat mal wieder allzu heftiger Seegang die Überfahrt vereitelt …
Tatsächlich gehört die Passage von Orzola nach La Graciosa zu den aufregendsten Erlebnissen im Meer um die Kanarischen Inseln: Nicht selten türmt sich vor Orzola eine meterhohe Brandung im offenen Meer, angefacht durch die stetigen Passatwinde aus Nordost. Das Boot stürzt und steigt über die Wellen, man fühlt sich wie in einer Achterbahn, die heftige Schräglage lässt Mutige lachen, Ängstliche erschauern. Erst wenn man in die Meerenge zwischen Lanzarote und La Graciosa einbiegt, wird das Meer schlagartig ruhig – gleichzeitig atmet alles an Bord erlöst auf, plaudert, lacht erleichtert. Passiert ist übrigens seit den 1970er Jahren nichts mehr, Kapitän Juan Romero ist ein echter Seebär und Meister seines Fachs.