Reportage

Meine kleine große Welt
Unsere Wanderführer-Autorin Britta Ullrich erzählt vom Lockdown

Britta Ullrich lebt seit 40 Jahren in Italien, 30 davon in der Toskana. Eindrucksvoll schildert sie, wie sie die Monate des Lockdowns in einem kleinen Dorf in Ligurien nahe der Toskana erlebt hat. Es geht um ihre Terrasse, die zu einem kleinen Freigehege wird – und darum, wie man sich die Welt wieder erschließt: durch Wanderungen.


Wie verbrachte ich meine Zeit während der Krise? Wochenlang blieb ich zu Hause. Ich konnte meine Wohnung nur verlassen, um in Levanto, im italienischen Ligurien an der Grenze zur Toskana, einzukaufen. Alle 10 Tage geschah das: mit langwierigen Schlangen vor dem Eingang der Geschäfte. Langsam habe ich mich an den Rhythmus gewöhnt und schaffte es zum ersten Mal in meinem Leben, für Tage vorzuplanen, was auf den Tisch kam.
Das Angstgefühl, das mich die ersten Wochen begleitete, ist langsam gewichen. Ich schaute weniger Fernsehen. Das hat geholfen, denn die Panikmache war extrem. Über nichts anderes wurde mehr geredet. Die Zahl der Erkrankten und der Toten war und ist hier erschreckend. Doch die rigorose Quarantäne hat dazu geführt, dass sich die Lage nun stark verbessert hat.

Das Wetter und mein Einkommen

Wanderführerautorin Britta Ullrich – unterwegs in ihrer kleinen großen Welt (Foto: Britta Ullrich)
Wanderführerautorin Britta Ullrich – unterwegs in ihrer kleinen großen Welt (Foto: Britta Ullrich)

Ich reise zurück in die Zeit. Als ich aufwache, sehe ich das Sonnenlicht durch die Fensterläden dringen. Endlich, schießt es mir in den Sinn. Dabei hat es nur zwei Tage geregnet, und das war auch dringend nötig. Ich lebe mittlerweile seit fast 40 Jahren in Italien. Da ändern sich die Erwartungen an das Wetter. Früher, in Aachen, wo ich aufgewachsen bin, war man froh, wenn es nach zwei Wochen aufgehört hat zu regnen. Nach fast 30 Jahren Toskana und zehn Jahren Ligurien erscheinen zwei Tage Regenwetter wie eine Ewigkeit.
Heute jedoch kann ich meine Runde drehen. Sie wird von mir zärtlich-ironisch »die kleine Freiheit« genannt. Nach zwei Monaten Lockdown in meiner kleinen Wohnung erscheint mir mein Tal wie die weite Welt.
Zwei Monate, in denen ich eigentlich mit Wandergruppen durch die Natur Liguriens und der Toskana streifen wollte. Zwischenzeitlich war ich arbeitslos und natürlich auch ohne Einkommen. Auf die versprochene Hilfe von 600 € wartete ich mehrere Monate. Gern hätte ich diese Zeit genutzt, um die toskanischen Wege aus meinem Toscana MM-Wandern zu kontrollieren. Doch die Toskana, wenn auch nur 35 Kilometer von mir entfernt, war nicht zu erreichen. Also mussten die Wege warten.
Inzwischen sind die Grenzen wieder geöffnet. Ich freue mich sehr über diese Entwicklung!

Die Terrasse, der Berg und die Nachbarn

Wanderwege und Ausblicke, die trotz Lockdown und Kontaktsperre möglich waren (Foto: Britta Ullrich)
Wanderwege und Ausblicke, die trotz Lockdown und Kontaktsperre möglich waren (Foto: Britta Ullrich)

Meine Terrasse hat mir in den letzten Wochen unendlich viel Freude bereitet. Ein Platz, um an der frischen Luft zu sein, im Liegestuhl zu lesen, mit Freunden zu telefonieren und die Natur zu beobachten. Mein Dorf liegt an einem steilen Hügel, 150 Meter über einem schmalen Talboden, der den Bussarden, Turm- und Wanderfalken, manchmal sogar den Schlangenadlern, den nötigen Aufwind beschert. Sie drehen über mir ihre Runden.
In den Olivenbäumen rings ums Dorf zwitschern Meisen, Rotkehlchen, Buchfinken und eine Nachtigall um die Wette. Nachts höre ich den Fuchs, Eulen und Wildschweine. Selbst der Dachs ist unterwegs. Tagsüber füllt sich die Fläche meiner Terrasse mit Blumentöpfen, in denen ich Salate, Tomaten, Erdbeeren und Kartoffeln ausgesät habe. Bienen und Hummeln besuchen die Blumen. Dadurch ist die Terrasse wie das Freigehege in einem Zoo. Trotzdem, das wahre Leben spielt sich außerhalb ab.
Deswegen bin ich so froh, wieder auf die Wanderwege im Tal zu dürfen. Weit komme ich meistens nicht. Doch ich genieße jeden Meter. Steil geht es den Berg hinauf. Wenn der Weg auch der gleiche ist, manchmal tagelang hintereinander, finde ich stets etwas Neues. Manchmal schaue ich einfach den Kirschen und Walderdbeeren zu, wie sie sich langsam rot färben. Bald werde ich sie probieren dürfen.
Nachbarn treffe ich dabei auch. Sie sind hier, um ihre Reben zu pflegen und die Nutzgärten mit dem Sommergemüse zu bewässern. Ein Schwätzchen mit Sicherheitsabstand ist möglich. Mittlerweile verstehe ich auch ihren Dialekt, der Jahrhunderte von Seereisen in sich trägt. Genua, die große Handels- und Seemacht, hat die Sprache mit Wörtern aus zahlreichen Ländern angereichert – und ihr einen noch weicheren Ton verliehen, als das Italienische so schon hat. Man spricht über das Wetter, die Arbeiten der Landwirtschaft und natürlich auch über die verlorene Freiheit. Aber das Lachen geht nie verloren.

Echte Naturerlebnisse

Auch der Schwalbenschwanz hat das Social Distancing satt … (Foto: Britta Ullrich)
Auch der Schwalbenschwanz hat das Social Distancing satt … (Foto: Britta Ullrich)

Dann kommt der einsame Teil meiner Tour. Im oberen Abschnitt ist fast nie jemand unterwegs. Hier blühen Orchideen. Seit meiner ersten Runde warte ich gespannt auf die Entwicklung einer kleinen Pflanze, die ich nicht bestimmen kann. Jedes Mal ist sie ein Stück gewachsen, aber noch fehlen die Blüten.
Die kleine neugierige japanische Nachtigall treffe ich auch fast immer. Von Zeit zu Zeit entdecken wir uns, Auge in Auge, bevor sie quirlig im Gebüsch verschwindet. Momentan sind auch die schönen Bienenfresser wieder da. Sie sammeln sich im Tal nach ihrem Rückflug aus Afrika. Danach ziehen sie weiter, um an Sandsteinhängen zu brüten. An verlassenen Weinhängen knabbere ich begeistert an Wildkräutern, dem Borretsch, dem Venuskamm und spiele mit den Segelfaltern und Schwalbenschwänzen, indem ich den Finger hochhalte. Sie landen darauf. Mit viel Geduld und einem wenig Glück gelingt es immer wieder.
Wenn ich dann nach 3 Stunden in meine kleine Wohnung zurückkomme, ist der Kopf wieder frei und verleiht mir die Energie, diese doch recht schwere Zeit mit einem Lächeln zu akzeptieren. Ich schmiede neue Pläne für eine undurchschaubare Zukunft und plane neue Wanderwege.

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