Lübeck lag im Fokus von Literaten. Bekannte Meistererzähler von Gogol, Fontane über Dostojewski, Raabe, Kafka und Benn besuchten die alte Handelsstadt. Ein 26-jähriger Kopenhagener darf dabei nicht vergessen werden: Hans Christian Andersen. Wie er Lübeck wahrnahm, verrät einiges über den Charme der vielleicht schönsten deutschen Hansestadt. Für die Maiausgabe des Newsletters verfolgte Matthias Kröner den genialen Märchenerzähler während eines Maitages durch Lübeck.
Nähert man sich dem skandinavischen Märchenerzähler Hans Christian Andersen durch die Hintertür, entsteht das Bild eines fragilen, hoch neurotischen Menschen. In seinen Tagebüchern outet sich Andersen als Hypochonder, Legastheniker und zwanghaft, als einer, der nach dem Verlassen eines Raumes zweimal überprüfen musste, ob er die Kerzen wirklich gelöscht hatte, auf Bahnhöfen erschien er Stunden vor der Abreise. Geschenktes Essen verschenkte er weiter, Schweinefleisch mied er aus Furcht vor Bandwürmern. Und während seiner Bordellbesuche zu Zeiten der Pariser Weltausstellung wollte er mit den Damen nicht schlafen – sondern reden; sie sollten sich nicht entkleiden. Er verliebte sich unglücklich in Frauen und Männer und hatte aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Sex. Er schwamm gerne, was damals als seltsame Grille abgetan wurde, war Linkshänder und soll ein Seil in seinem Gepäck verwahrt haben, um sich bei einem Hotelbrand retten zu können. Erst spät wurde er in Dänemark anerkannt – dann freilich gleich vom König mit dem höchsten Orden des Landes ausgezeichnet. Seine größte Angst war es, lebendig begraben zu werden. Manchmal verfasste er vor dem Nachtschlaf einen Zettel. Darauf stand: »Ich bin nicht wirklich tot.«
Vom Armenschüler zum Schriftstellerstar
1805 als Sohn eines verarmten Schuhflickers und einer alkoholkranken Wäscherin auf der dänischen Insel Fünen geboren, verließ der spätere Schriftstellerstar 14-jährig seine Heimatstadt Odense, um als Schauspieler in Kopenhagen zu scheitern. Es sah nicht unbedingt danach aus, dass er eine steile Karriere einschlagen sollte – und für seine Kunst sogar von höchster Staatsstelle besoldet würde. Doch es geschah. Die harte, unterprivilegierte Kindheit verarbeitete er in seinen Geschichten, die oftmals ohne Happy End und ohne Zeigefingermoral auskommen. Der ausgefeilte, mündlich inspirierte Stil war so unerhört neu, dass er erst einmal kritisiert wurde …
In der »ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher« (Suhrkamp, 1980) beschreibt Egon Monk Andersens Anfangssätze als die »schönsten und listigsten der Weltliteratur«. »Wer als Kind niemanden hatte, der sich zu ihm ans Bett gesetzt und ihm die Märchen vorgelesen hätte, der geniere sich nicht und hole als Erwachsener das Versäumte nach. Andersens Welt ist lebenslänglich und für alle Lebensalter geöffnet.« In Opern, Tanztheatern und ungezählten Büchern leben seine wilden Geschichten und anarchistisch-revolutionären Figuren weiter. Dass zahlreiche seiner Märchen sogar verfilmt wurden, spricht unbedingt für den keck-kritischen Fabulierer und Erfinder der »Kleinen Meerjungfrau« (1837) und des tieftraurigen »Mädchens mit den Schwefelhölzern« (1845); auch »Die Prinzessin auf der Erbse« (1837), »Des Kaisers neue Kleider« (1837), »Das hässliche Entlein« (1843) und »Die Schneekönigin« (1844) stammen aus seiner Feder.
1875 starb der dänische Dichterfürst und kongeniale Erzähler, dessen Werke in 120 Sprachen übersetzt sind, in Kopenhagen an Leberkrebs. Als 26-Jähriger machte der noch unbekannte Autor eine Tagesreise nach Lübeck.
Eine Travefahrt mit dem Dampfschiff
Andersen liebte es, unterwegs zu sein: zur Inspiration, als psycho-hygienische Maßnahme, zum Vergnügen. Am 16. Mai 1831 besuchte er im Stile eines Tagestouristen und per Dampfschiff von Kopenhagen aus die freie Reichs- und Hansestadt Lübeck. Seine Travefahrt beschreibt er im Tagebuch: »Um halb zwölf kamen wir nach Travemünde. […] Wir konnten vor lauter Nebel nichts sehen, aber als wir hineinglitten, lag er hinter uns und meine erste Flußschiffahrt begann.« Diese schildert Andersen in seinen »Umrissen einer Reise von Copenhagen nach dem Harze, der Sächsischen Schweiz und über Berlin zurück«, einer 1839 in Berlin publizierten Reisebeschreibung: »Die Trave ward schmäler; das Dampfschiff schien ihr ganzes Bett ausfüllen zu wollen; bald sehen wir das siebentürmige Lübeck zwischen den Matten und dem Walde herauftauchen […]. Die vielen Biegungen veranlassen, dass man nicht recht weiß: ob man von oder zur Stadt fährt.«
In den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts erlebte das Seebad seinen ersten Höhepunkt. Die Stadt erholte sich von der Fremdbesetzung durch die Franzosen – und florierte. Andersen, der auf seinen 30 groß angelegten Reisen, die ihn nach England, Italien, Frankreich, Spanien, Nordafrika und ins Osmanische Reich führen sollten, auch gerne nach Deutschland kam, war von der authentischen Handelsstadt angetan. In jener Reisebeschreibung heißt es: »Unter den spitzgiebeligen Häusern, engen Seitengässchen und unter den historischen Erinnerungen glaubt man sich hier um Jahrhunderte zurückversetzt; diese eckigen Gebäude, diese Steinbilder am Rathause, die gemalten Glasscheiben hier an der alten Kirche, an welcher wir vorbeigingen, sehen noch so aus, als könne Jorgen Wollenweber […] ein kräftiges Wort mit dreinreden […].«
Jürgen Wullenwever war ein sehr populärer Volkstribun und zupackender Bürgermeister, der die Reformation in Lübeck einführte, Kaperfeldzüge gegen Holland und Dänemark befahl, die Kritik an seiner Person unter Strafe stellte – und von Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, einem Anhänger des alten Glaubens, 1537 hingerichtet wurde.
Die stumme Predigt des Totentanzes
Zum Kulturprogramm gehörte selbstverständlich eine Besichtigung des Lübecker Totentanzes. Das Meisterwerk von Bernt Notke wurde während des einzigen Bombenangriffs auf Lübeck im Zweiten Weltkrieg unrestaurierbar zerstört. Heute sieht man lediglich eine Schwarz-Weiß-Fotografie der genialen Bilderfolge in der Marienkirche. Welchen Eindruck das Original, das auf einer 26 m langen und 2 m hohen Leinwand gezeichnet war, auf eine aufnahmebereite Psyche gemacht haben muss, erschließt sich aus den Interpretationen des Dichters. »Mich dünkte, der Maler habe in des tanzenden Klapperbeins Antlitz ein ironisches Lächeln gelegt, welches mir und der ganzen Gesellschaft, welche hier stand und ihre Bemerkungen über ihn machte, sagen zu wollen schien: Ihr glaubt nun Ihr stündet still, oder spaziert höchstens in der Marienkirche umher, um euch die alten Bilder zu besehen; euch hat der Tod zum Tanz bereits aufgefordert und so tanzt ihr bereits alle mit mir. […] Das Leben gleicht der Lampe, welche schon auszubrennen beginnt, wenn sie angezündet wird.« Nach einem Unwetter verließ der konsequente Erneuerer des biedermeierlichen Kunstmärchens mit seinen drei Reisebegleitern (einem Dänen und zwei Norwegern) Lübeck, um Wandsbeck aufzusuchen, die Stadt eines verehrten und 1815 verstorbenen Dichterkollegen: Matthias Claudius, der höchstselbst schon nach Travemünde reiste.
Von der kleinen in die große Gotteskirche
Auch wenn Dresden die heimliche deutsche Hauptstadt für Andersen war (die er 32-mal besuchte), stempelte sich Lübeck auf die sensible Dichterseele. »Aus der Marienkirche ging ich hinaus in die große Gotteskirche, welche noch auf eine andere Weise groß und alt ist; das ist ein Gewölbe, welches noch predigen wird, wenn alles Übrige schweigt […].«
Es ist nicht schwer, Lübeck auch heute noch so oder so ähnlich wahrzunehmen. Die von der UNESCO geschützte Altstadt atmet an vielen Ecken den Geist der Hansezeit. Bedeutende Bau- und Kunstwerke und diverse Straßenzüge (die u. a. in Heinrich Breloers Buddenbrooks-Verfilmung zu sehen sind) haben den Zweiten Weltkrieg überdauert – und sogar die zerbombte Marienkirche wurde wiederhergestellt und re-gotisiert (was dem ehemals barocken, etwas schwülstigen Innenraum sogar gut getan hat). Seit Jahren gibt es außerdem eine lebendige Kultur- und Kulinarikszene. Drei Sterneköche beglücken die Einheimischen und die Urlauber; ein supermodernes Hansemuseum ist für 2014 geplant. Selbst das Meer darf genossen werden – zumal sich die Travemünder Nebelschleier, die das Dampfschiff und den Poeten verwirrten, spätestens nach den Eisheiligen für die neue Saison gelichtet haben werden.
Weiterführende Informationen:
Wer eine ähnliche Travefahrt wie Andersen erleben will, kann mit den Ausflugsfähren von Könemann in 90 Min. von Travemünde zur Altstadt schippern. Das geschieht freilich auf einem Ausflugsschiff, leider nicht auf einem Dampfer. Dafür wird man angenehm über die Trave gegondelt und kann dazu einen Kaffee oder ein Bierchen schlürfen. April bis Mitte Okt. 11.45 und 16.15 Uhr. Erwachsene zahlen 11 €, Kinder bis 14 J. 6 €, Familien 25 €. Geburtstagskinder jeden Alters fahren frei (Ausweis!). Vorderreihe 148 (gegenüber der Zweigstelle Niederegger), Tel. 0451/2801635, www.koenemannschiffahrt.de.
Wer einen ersten Eindruck von der superb erhaltenen Altstadt erlangen will, schließt sich einer Führung durch die Gänge und Höfe an. Auf den Spuren der Buddenbrooks oder der Stadtklöster geht es den Altstadthügel hinauf und hinab. Mal führt eine Fischersfrau, dann eine Hebamme, mal eine Brauers- und sogar eine Kräuterfrau durch die Häuserzeilen. Freitags 21 Uhr, jeweils wechselnder Treffpunkt von Mai bis Oktober. 9 € pro Pers., Anmeldung erforderlich unter Tel. 0451/596220.
Die Marienkirche mit der Fotografie des Totentanzes liegt im Zentrum der Altstadt. Öffnungszeiten: 01.04.-03.10. 10-18 Uhr, 04.10.-31.10. 10-17 Uhr, Nov-März 10-16 Uhr. www.kirche-in-luebeck.de. Eintritt 2 €, erm. 1,50 €, Kinder frei. Mai-Sept. kostenlose Führungen werktags um 12.15 Uhr und 15 Uhr, Okt. und in der Adventszeit nur um 12.15 Uhr (Dauer: 1-1:30 Std.).
Zwei herausragende Originale von Bernt Notke befinden sich im Dom: das Triumphkreuz und der Lettner. Mühlendamm 2, www.dom-zu-luebeck.de. 01.04.-03.10. 10-18 Uhr, 04.10.-31.10. 10-17 Uhr, Nov.-März 10-16 Uhr. Eintritt frei.