Ein Erfahrungsbericht unseres Programmgestalters Peter Ritter. Für die aktuelle Ausgabe des Newsletters erzählt der hauptberufliche Lektor vom Tschechienbild aus der Sicht des Schreibtischtäters, wobei er insbesondere auf den Fußball und eine damit verbundene Leidensgeschichte zu sprechen kommt. Denn im Endspiel der Europameisterschaft 1976 waren es die »sinistren« Osteuropäer, die den damals noch jungen Uli Hoeneß mehr als alt aussehen ließen.
»Schreib doch mal was über Tschechien, die Autoren sind unterwegs in der Türkei, und Du hast das Buch doch schließlich lektoriert!« – Tschechien also. Ich krame in meinem Gedächtnis und finde tatsächlich in einem der hinteren Gänge einen wohlsortieren Stapel Papier: etwa 400 Seiten Manuskript mögen es schon gewesen sein, sagt mir mein Hirn. Neben dem gedanklichen Papierstapel mit der Aufschrift »Tschechien« glotzt mich als Erstes ein Gesicht an: Es ist das noch jugendliche Antlitz von Uli Hoeneß, der sich gerade den Ball zum Elfmeter zurechtlegt. In wenigen Sekunden wird er schießen und den Ball nicht im Tor, sondern im Nachthimmel von Belgrad versenken. Was das mit Tschechien zu tun hat? Ganz einfach: Es ist der 20. Juni 1976, und es ist Elfmeterschießen. Nicht irgendein Elfmeterschießen, sondern das finale Elfmeterschießen der fünften Fußballeuropameisterschaft, die einen Elfmeter später entschieden ist. Gewinnen werden – Sie ahnen es schon – die Tschechen, deren letzter Schütze unseren Torhüter Sepp Maier »mit einem gefühlvollen Heber« (Wikipedia – Freie Enzyklopädie, www.wikipedia.de) überwindet wird.
5:3 nach Elfmeterschießen heißen am Ende die nüchternen Zahlen, die mich seinerzeit in einen akuten Schockzustand versetzt haben. Ob das Spiel mein pubertäres Tschechienbild geprägt hat? Im Grunde ja, denn was im Nachhinein als »gefühlvoller Heber« verklärt wurde, war für mich damals in Wahrheit ein äußerst respektloser Lupfer, eine Art Todesschuss im Dienste des Klassenkampfes. Schließlich waren die Tschechen 1976 nicht einfach die Tschechen, so wie zum Beispiel die Schweizer die Schweizer waren oder die Franzosen die Franzosen. Die Tschechen waren Bewohner der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, kurz und bündig CSSR, und als solche – Entspannungspolitik hin oder her – sinistere Gesellen mit Staatsamateuren (im Fußball), KP-Chefs (in der Politik), einem Parteiorgan (namens Rude Právo) und einer amtlichen Nachrichtenagentur (den Namen weiß ich nicht mehr), aus deren Verlautbarungen alle ein, zwei Wochen die abendliche Tagesschau zitierte (»in Ermangelung anderer Quellen«, wie ein ernster Sprecher meist ausdrücklich betonte). Wir dagegen hatten echte Profis (im Fußball), keinen KP-Chef (oder zumindest nur ganz harmlose), keine amtliche Nachrichtenagentur und die BILD-Zeitung. Kurz: Sie waren nicht würdig, uns den Titel streitig zu machen!
Heute – mit Mitte 40 – sehe ich die Dinge natürlich anders; insbesondere glaube ich, dass Hoeneß nie hätte schießen dürfen. Aber das ist Schnee von gestern.
Schnee von gestern ist auch die CSSR. Sie verschied beim Massensterben der sozialistischen Staaten Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre. Zur Folge hatte das beispielsweise, dass das ehemals Rude (rote) Právo heute nur noch Právo heißt und den Sozialdemokraten nahe steht. Zur Folge hatte das aber auch, dass man heute zwei Reiseführer schreiben muss, wo bis zum 1. Januar 1993 einer genügt hätte. Denn am Ende löste sich die Tschechoslowakei nicht nur von ihrer sozialistischen Vergangenheit, sondern auch in ihre Bestandteile auf und gebar die Slowakische und die Tschechische Republik, vulgo die Slowakei und Tschechien. Einer der gleichnamigen Reiseführer wird künftig bei uns erhältlich sein, und natürlich möchten Sie jetzt endlich wissen, was ich denn so behalten habe bei meiner Lektüre des Tschechien-Manuskripts, denn die Autoren sind in der Türkei und können nicht selber … – aber das wissen Sie ja schon.
Seien Sie ehrlich! Am liebsten hätten Sie, dass ich aus dem Nähkästchen plaudere, Sie hinter die Kulissen mitnehme und Ihnen – der Mensch neigt ja zur Schadenfreude – Katastrophen erzähle. Dass die Autoren permanent die Himmelsrichtungen durcheinandergeworfen, Prag fälschlicherweise an der Donau verortet oder Karel Gott zum ersten Präsidenten der tschechischen Nach-Wende-Ära erklärt hätten. Dass wir das Manuskript am Ende komplett verworfen, feierlich verbrannt und alles von Grund auf neu geschrieben haben.
Ich muss Sie enttäuschen. Nichts davon ist wahr. Schon das Manuskript war vorzüglich, und das fertige Buch wird ein Glanzstück der deutschen Reiseliteratur sein. Sie sollten die Tage zählen, bis es endlich erscheint. Ob es nicht doch eine Einschränkung gibt? Einen kleinen Makel? Eine Winzigkeit? Ja, jetzt erinnere ich mich: Die skandalösen Vorgänge vom Abend des 20. Juni 1976 sind mit keinem Wort erwähnt.
PS: Wenn Sie Nostalgiker sind, empfehle ich Ihnen den folgenden Titel von Ctibor Rybar: Reiseführer Tschechoslowakei, 1. Auflage. 1983. Sie können das Buch nur noch übers Internet antiquarisch erwerben (www.antiquario.de) und müssen sich auf den folgenden Zustand einstellen: »Deckel etwas abgenutzt, Innenseiten leicht gewellt, ansonsten altersentsprechend gutes Exemplar«.