Der zweite Blick hinter dem Offensichtlichen zeichnet die Müller-Reiseführer seit jeher aus. Diesmal ist Matthias Kröner ausgeschwärmt, um eine Top Ten für seine Lieblingsstadt zu schreiben. Dabei hat er die Wahrzeichen ebenso unter die Lupe genommen wie die aktuell angesagten Restaurants, die Strände und die ungewöhnlichsten Souvenirs. Außerdem tut sich gerade was in der Szene: Es gibt eine neue Cocktailbar, geleitet von jemand, der bereits bei den Europameisterschaften seines Fachs angetreten ist – und einen Slam, bei dem Popen gegen Poeten »predigen«.
Wahrzeichen
Selbstverständlich, das Holstentor! Doch so eigenwillig und windschief sich dieses Wahrzeichen vor der Westseite der Altstadt zeigt, so unbeeindruckt lässt einen das Museum im Inneren. Deshalb sollte man das neue Wahrzeichen Lübecks ansteuern: das Europäische Hansemuseum. Was im engen Holstentor etwas zu kurz gerät, wird dort zwar allzu ausufernd präsentiert – die große Zeit während des Spätmittelalters. Dafür sind die nachgestellten Szenen geglückt (z. B. das Kabinett zur Pest, ein mittelalterliches Tuchkaufhaus), und auch der Audio-Guide bereitet Freude.
Überdies hat man von der Dachterrasse des architektonisch gut gemachten 45-Millionen-Euro-Baus eine exquisite Sicht auf die Trave und den Stadthafen. Auch in den angeschlossenen Räumen des Burgklosters lässt es sich sehr gut wandeln und der Mentalität einer längst versunkenen Epoche nachspüren.
Skyline
In einigen Reiseführern wird noch immer geschrieben, dass man auf dem Lindenplatz in der Nähe des Hauptbahnhofs einen hervorragenden 7-Türme-Blick hätte. Das stimmt so nicht. Gerade die nördlich und südlich gelegenen Kirchen sind von dieser Warte nur schlecht erkennbar und längst von anderen Gebäuden zugebaut.
Deshalb lohnt es sich, das offene Deck des Parkhauses Hüxstraße anzusteuern. Mit kameratechnischen Extras setzt man hier einen ungewöhnlichen Superbreitbildpanoramaleinwandblick ziemlich ideal ins Bild. Was das kostet? 1,50 Euro pro angefangene Stunde. Ab 18 Uhr sind es 80 Cent.
UNESCO-Welterbe
Lübeck ist bekannt für seine Altstadt. Wegen ihr kommt man her, sie schaut man sich an. Zu Recht? Unbedingt, die UNESCO-Zertifizierung, die sich 2017 zum 30. Mal jährte, hat ein deutsches Unikum ausgezeichnet, das seither dank der Possehl- und anderer Stiftungen gehegt und gepflegt wird. Sage und schreibe 1000 (!) der gut erhaltenen Altstadthäuser sind im gerade mal 1,2 mal 1,7 km kleinen Stadtzentrum denkmalgeschützt. Vier Fünftel der Baumasse stammen aus dem Mittelalter, der Renaissance und dem Klassizismus, weswegen man in Lübeck auf eine Zeitreise durch die Jahrhunderte geht.
Wie konnten so viele Bauten »überleben«? Der Grund dafür liegt in einer Außenstelle des Roten Kreuzes. 1944 wurde Lübeck zu einem Umschlagsplatz der Hilfsgüter für in Deutschland inhaftierte britische Kriegsgefangene, weswegen sich nur ein Fliegerangriff auf die Stadt ereignete – 1942, Englands Antwort auf Coventry.
Essen & Trinken
In Lübeck findet man für jeden Anlass ein Lokal. Egal, ob Sie Sterneküche oder Fischbrötchen schätzen, in der Altstadt und in Travemünde gibt es beides. Dabei ist es wie in jeder lebendigen (Mini-)Metropole: Die Kulinarik verändert sich, je nach Zeitgeschmack und Engagement der Gastwirte.
Ich persönlich schätze auch jüngere Entwicklungen wie das vegetarisch-vegane Café Erdapfel vor dem Rathaus (günstig!) und die exquisiten Burgervarianten im Leo’s (krosse Süßkartoffelpommes!). Original norddeutsche und sehr gute Fischgerichte bekommt man am Fischereihafen in Travemünde.
Stadtstrand
Wer Lübeck besucht, den zieht es auch ans Meer, nach Travemünde. Der nördlichste Stadtteil liegt an der Ostsee und ist nur am Hauptstrand während der Hochsaison gut bevölkert. Besser entspannen lässt es sich auf dem wilden Strand hinter der Segelschule Mövenstein, von wo man auch einen Spaziergang an der Steilküste entlang bis Niendorf unternehmen kann (»Brodtener Steilufer«). In der Weite des Horizonts sieht man mindestens eine der großen Fähren, die Lübeck anpeilen – oder Schwäne, die majestätisch über die See ziehen.
Doch auch auf dem Priwall (einst die nördlichste Grenze zur DDR) kann man wunderbar ausschreiten und es mit Thomas Mann halten: »Wir gehen, gehen auf leicht federndem, mit Tang und kleinen Muscheln bestreutem Grunde, die Ohren eingehüllt vom Wind, von diesem großen, weiten und milden Winde, der frei und ungehemmt und ohne Tücke den Raum durchfährt und eine sanfte Betäubung in unserem Kopfe erzeugt.« (Thomas Mann, Der Zauberberg)
Souvenirs
Marzipan muss sein. Wer nicht sofort zu Niederegger neben dem Rathaus stürmen möchte, kann einen Abstecher ins Marzipanland machen. Der Marzipanbruch mit Schokoglasur ist hervorragend, wird aber von Jahr zu Jahr teurer … In letzter Zeit hat mich das Marzipan im winzigen Laden von Mest beeindruckt. Es gibt Bio-Marzipan und eine Köstlichkeit aus mallorquinischen Mandeln.
Die zweite Besonderheit heißt natürlich Lübecker Rotspon, der inzwischen in metallenen Tankbehältern per Zug in die Stadt gelangt. Früher erreichte er Lübeck mit dem Frachtschiff und reifte in den feuchten Altstadtkellern in riesigen Holzfässern nach, die seine Note begünstigt haben (so jedenfalls die Stadtlegende). Ich favorisiere derzeit einen ganz anderen Wein, vielleicht wegen meiner Liebe zur Literatur. Neben dem multimedial angelegten Günter-Grass-Haus (ein Tipp!) sollte man das analoge Wein-Castell von Kurt Thater in derselben Straße besuchen. Dort finden Sie Weine, für die Günter Grass persönlich die Etiketten gestaltet hat (z. B. »Der Butt will schwimmen«).
Nachtleben
Von den Wörter- und Wissensschlachten im Filmhaus (»Poetry- und Science-Slams«) habe ich schon an anderer Stelle vorgeschwärmt. Relativ neu und gar nicht so bekannt in Deutschland ist der Preacher Slam. Einmal im Jahr, meist im Mai, treten Popen gegen Poeten in St. Petri an. Nur soviel: Man ist erstaunt, wie wortgewaltig und wenig zeigefingernd die Priester »predigen«!
Wer es gepflegter will und die neue Gin-Szene kennenlernen mag, macht mit dem Dietrich’s vieles richtig. Der Barmixer war mit seinen Cocktails bereits bei den Europameisterschaften.
Unterkunft
In der Altstadt wohnt es sich gut, doch am Meer lebt es sich erwiesenermaßen noch besser. Dabei gibt es einige Varianten in der ersten Reihe, die einen grandiosen Meerblick bieten. Trotzdem bleibt das Lili Marleen die für mich schönste Unterkunft des Stadtteils an der See. Warum? Weil die sehr individuellen Zimmer mit alten Möbeln, Hafenmotiven, Holzdielen und ausladenden Betten punkten und die Doppelzimmer in der gerade noch bezahlbaren Rate zwischen 85 und 130 Euro liegen.
Was der Welthit »Lili Marleen«, der im Zweiten Weltkrieg immer wieder für eine kurzzeitige Waffenruhe sorgte (weil die Soldaten über die Schützengräben hinweg mitsangen), mit Travemünde zu tun hat, konnte aber nicht abschließend geklärt werden.
Einkaufen
Lübeck erfüllt zahlreiche Shoppingwünsche – darunter auch solche, von denen man gar nicht wusste, dass man sie hat. Heute möchte ich eine Buchhandlung hervorheben, die in Zeiten von Amazon und Co. noch etwas Unerhörtes leistet: Die maKULaTUR vertreibt keine Bestseller, sondern Kunst- und Designbücher im besten Sinne. Dabei auch Lyrik und Bildbände, die einen be"greifen" lassen, weshalb es schade wäre, wenn sich der reine Onlinemarkt durchsetzt.
Lübeck mit Kindern
Wer schon Kinder im wanderfähigen Alter hat (»Boah, Papa, bloß nicht wandern!«), kann einen Außenbezirk von Lübeck ins Navi eingeben. Was die digitale Suchhilfe findet, war für die Franzosen während ihrer Fremdbesetzung im 19. Jahrhundert zu gut versteckt: der kleine Fischerort Gothmund.
Heute kann man dort immer noch eine kleine Siedlung reetgedeckter Häuser sehen, eine Wanderung durchs Naturschutzgebiet Schellbruch unternehmen (seltene und gefährdete Wasservögel!) und einen Waldspielplatz erreichen. Viel Freude in Lübeck!