Meine Schwester, eine Sozialpädagogin, ist schuld. Sie leitete 1999 eine Mutter-Kind-Gruppe mit dem Schwerpunkt Stillen. Eine Lektorin des Michael Müller Verlags war 1999 mit ihrem Baby in dieser Gruppe. Meine Schwester dachte: Mein Bruder studiert Literaturwissenschaft, brotloser geht’s nicht! Die Lektorin sagte: »Wir suchen gerade einen Online-Redakteur …«
Wo bitte geht’s hier online?
Ich sprach auf den Anrufbeantworter des Redaktionsleiters Karsten Luzay und bekam schnell einen Vorstellungstermin. Das Problem an der Sache: Ich war 1999 noch nie online. Zwar hatte ich einen PC mit Riesenbildschirm und sogar einen Tintenstrahldrucker mit sündhaft teuren Ersatzpatronen (viele, viele Seminararbeiten mussten geschrieben werden …). Doch das Internet war noch lange kein Massenmedium. Lediglich an der Uni gab es einen geheimnisvollen Raum mit etwa 20 Rechnern, dank denen man wie durch ein Portal in dieses Internet »reingehen« konnte. Es war ein kalter Novembertag, an dem ich einen guten Freund, der schon zweimal (!) online war, vor jener Geheimkammer traf. Er erklärte mir in zehn Minuten, was ein Browser sei, welche Mausklicks man betätigen müsse und was eine Suchmaschine vermag, wobei Lycos und Yahoo damals die großen Nummern waren (die Leute von Google experimentieren vermutlich noch in ihrer Garage) …Eine Stunde später saß ich bei Michael Müller im Büro. Ich bin mir bis heute sicher, dass wir uns wegen unserer langen Mähnen sofort sympathisch fanden. Außerdem hatte ich gerade eine Miniatur in »Der Literat« und ein Reim-Gedicht im »Eulenspiegel« veröffentlicht … So landeten wir schnell beim Du und tauschten uns von, ähm, Autor zu, wow (!), Verleger über Texte aus. 30 Minuten später bekam ich den Job.
So viele Aufgaben, dass es für drei Leben reicht
Ich gestehe, zwei Wochen tat ich mich richtig schwer. Doch letztlich hatte Max Goldt recht. Er verglich das Internet der Jahrtausendwende mit Russland, das ein »zwar großes, aber schlichtes Reich« sei. Zumindest fürs Internet stimmte das. Seither habe ich so viele unterschiedliche Aufgaben im Michael Müller Verlag übernommen, dass es eigentlich für drei Leben reicht. Als Student galt es (siehe oben!), die Webseite aufzubauen. Sie bestand am Tag des Vorstellungsgesprächs aus exakt 5 (!) Seiten … Ich lernte Kundenmails zu beantworten. »Lockerer Stil, nie arrogant!« war Michael Müllers Credo bis heute. Ich kurbelte mit unserem Informatiker ein Partnerprogramm an und trat in direkter Konkurrenz zu Amazon. Ein Online-Buchhändler, der 1999 auf dem deutschen Markt noch eine kleine Seite mit schmalem Umsatz war … Bei uns konnte man die Bücher ohne Versandgebühr bestellen, bei Amazon ging das erst ab 20 Euro! Ich durfte einen Newsletter entwickeln und weiterspinnen, die Pressearbeit aufbauen, auf der Internationalen Tourismus Börse in Berlin dem rbb ein Interview über Verlagsarbeit geben (nach, hüstel, einjähriger Verlagserfahrung …) und mit großen Reiseveranstaltern zusammenarbeiten (z. B. Attika Reisen, Stena Line), denen wir bis heute freundschaftlich verbunden sind.
Dort fährst du nächste Woche hin!
Dann plötzlich, sechs Monate vor meiner Abschlussprüfung, stand Michael Müller hinter mir, klaute sich einen meiner Kulis und kreiste auf einer Portugalkarte ein ziemlich großes Gebiet ein. »Dort fährst du nächste Woche hin. Ich möchte, dass du 80 Seiten meines Algarve-Reiseführers aktualisierst. «Ich glaube nicht, dass ich vor einem Auftrag jemals so große Angst hatte. Kann ich das überhaupt? fragte ich mich. Ich, der Orientierungs-Legastheniker. Ich spreche nur bröckchenweise Portugiesisch, war noch nie an der Algarve, und schließlich geht’s um das Buch des Chefs! Da Verleger und Autoren immer sparen müssen, startete mein Flug um 3.30 Uhr. Ich bekam in Lagos einen Mietwagen, sollte in 10 Tagen wieder zurück in Franken sein und verfügte über einen klaren Arbeitsauftrag: »Ich hoffe auf reiche Beute!« Völlig übermüdet und entsprechend auf Adrenalin legte ich wenige Stunden später los. Ich fuhr die eher touristische Süd- und die wettergegerbte Westküste entlang, erlebte verlassene Strände, einfache Lokale, angenehm-zurückhaltende Menschen und eine Freiheit, die ich bis dato noch nie gespürt habe. Dabei arbeitete ich täglich 14 Stunden, den Rest der Zeit verwandte ich auf lebenserhaltende Mindestmaßnahmen – und fiel komatös ins Bett. Trotzdem freute ich mich auf jeden dieser absolut abwechslungsreichen Tage. Es war klar, dass ich ebenfalls Reiseführer schreiben musste.
Zwei Jahrzehnte und eine neue Reisebuch-Reihe später
Inzwischen sind es ziemlich genau zwei Jahrzehnte, die ich im Michael Müller Verlag arbeite. Das Internet ist heute ein komplexes Reich, genau wie Russland. Doch noch immer darf ich das tun, was man gemeinhin Selbstverwirklichung nennt, doch vermutlich mit Sinnhaftigkeit gut umschreiben ist. Vor zwei Jahren kam mir bei der vierten Aktualisierung meines Hamburg-Reiseführers eine Idee für eine neue Reisebuch-Reihe. Die ersten acht Bände sind im Oktober lieferbar. Danke, lieben Dank für das viele, viele Vertrauen!