Das Ubaye-Tal war stets ein bitterarmes Hochtal, in dem Schmalhans Küchenmeister gewesen ist. Allein von Ackerbau und Viehzucht konnten im 18. Jahrhundert nur die wenigsten Familien leben, so dass einige kleine Stoffmanufakturen entstanden. Pierre Arnaud, ein kleiner Handwerker, war sogar so hoch verschuldet, dass er sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub machte, um seinen Gläubigern zu entkommen.
Da er den Arm des Gesetzes fürchtete, schiffte er sich 1821 auf einem Boot ein, das ins mexikanische Veracruz auslief. Wenig später folgten ihm seine Brüder Jacques und Marc-Antoine nach, die dort ein Textilgeschäft eröffneten, das schnell florierte. Die Brüder Arnaud kamen im Textilhandel zu ungeahntem Reichtum und beschäftigten bald einige Bekannte aus ihrer Heimatstadt Barcelonnette, eine Gemeinde im Nordosten der Haute-Provence.
Ein Auswanderungsboom, der zu Ausbeutung führte
Als zwei dieser Angestellten 1845 mit einem kleinen Vermögen zurückkehrten, brach ein wahrer Auswanderungsboom aus: Jeder wollte sein Glück versuchen – in Mexiko. Man half sich untereinander mit Krediten, und innerhalb weniger Jahrzehnte wurden nicht nur in allen größeren Städten Textilgeschäfte gegründet, sondern auch riesige Fabriken errichtet, in denen teilweise mehr als 6000 mexikanische Arbeiter unter ausbeuterischen Bedingungen täglich dreizehn Stunden an den Webstühlen saßen.
Zug um Zug entstand ein regelrechtes Netzwerk aus Kaufhäusern, Banken, Versicherungen und Tabakfabriken. Die Warenhäuser orientieren sich an den Pariser Vorbildern und glänzten als wahre Prachtbauten im Stil der Belle Époque. Trotzdem rissen die Verbindungen zur Heimat rissen nie ab: Wollte einer der »Barcelonnettes« heiraten, so wurden Vermittler aktiv, um in den provenzalischen Alpen die richtige Braut für ihn zu suchen …
Reichtum und Risiko in der Neuen Welt
Zeitweise gingen zwei von drei jungen Männern aus dem Ubaye-Tal nach Mexiko, um in der Neuen Welt reich zu werden. Doch nicht alle hatten Glück: Nur jeder Zehnte kehrte wieder in seine provenzalische Heimat zurück. Manche starben in der Hitze Mexikos, andere wollten nicht als Verlierer dastehen und ihr Leben als Hungerleider in Barcelonnette beschließen.
Die Heimkehrer hingegen stellten ihren Reichtum zur Schau. Als öffentlichen Beweis ihres Erfolges ließen sich »die Mexikaner« feudale Herrenhäuser in einem historisierenden Stil mit verspielten Dachlandschaften errichten. Sie stifteten öffentliche Bauwerke wie das Rathaus und ließen das Hospital restaurieren. Und auch auf dem Friedhof von Barcelonnette kannte die Bauwut kaum Grenzen: Manche Gräber sind prachtvoll wie Mausoleen.
Zehntausende Mexikaner entstammen ursprünglich dem Ubaye-Tal
Zurück zu Mexiko: Da sich die französischen Immigranten immer mehr in das Leben ihrer Wahlheimat integrierten, nahm die Zahl der Heimkehrer seit dem Ersten Weltkrieg drastisch ab. Eine letzte kleine Auswanderungswelle erfolgte in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Schätzungen gehen davon aus, dass heute 20.000 bis 50.000 Mexikaner von Auswanderern aus dem Ubaye-Tal abstammen. Das sind erheblich mehr als die 7500 Menschen, die heute in dem Hochtal der Alpes de Sud leben …