Eine 827-Seelen-Ortschaft spricht nicht unbedingt dafür, dass sich weltbekannte Geistesgrößen hierher verirren. Trotzdem kann der nur 9 km von Lugano entfernte Ort getrost als Künstlerdorf bezeichnet werden. In Carona lebten und verkehrten international erfahrene Architekten, eine surrealistische Ikone und bedeutende Autoren des 20. Jahrhunderts. Marcus X. Schmid, Autor des Reiseführers »Tessin« (1. Auflage 2014), kennt die Hintergründe.
Carona ist zweifellos das schönste Dorf der Collina d’Oro, es wird gerne auch als »Künstlerdorf« bezeichnet. Der Ort war im späten Mittelalter eine Wiege der Baumeister und Steinmetze. Die aus Carona stammende Künstlerdynastie Solari war im 15. Jahrhundert vom Mailänder Dom bis zum Moskauer Kreml an zahlreichen Bauten beteiligt und brachte es damit nicht nur zu Ruhm, sondern auch zu Reichtum.
Eine Verabredung, eine Auszeit, ein Grabmal
Heute verbindet man mit der Bezeichnung »Künstlerdorf« jedoch eher Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts. Hermann Hesse kam aus dem nahen Montagnola nach Carona, um seine Geliebte und später zweite Ehefrau Ruth Wenger zu treffen. Diese wiederum war die Tochter der in der Schweiz sehr erfolgreichen Kinderbuchautorin Lisa Wenger und gleichzeitig Tante von Meret Oppenheim, die mit ihrer berühmten »Pelztasse« eine Ikone des Surrealismus schuf. Die »Muse der Surrealisten« verbrachte ihre Ferien gern im Domizil ihrer Großeltern, in der Casa Costanza am kürzlich restaurierten Hauptplatz von Carona. Dort steht heute ein von ihr geschaffener Brunnen mit zwei ineinander verschlungenen Schlangen, aus deren Zungen das Wasser perlt. Das Schlangenmotiv findet sich immer wieder im Werk von Meret Oppenheim. Es ziert auch ihr schlichtes Grabmal aus rotem Sandstein – der Friedhof liegt knapp oberhalb des Orts.
Ein Zufluchtsort für linkspolitisch engagierte Kreative
Die linkspolitisch engagierte Jugendbuchautorin Lisa Tetzner (»Die schwarzen Brüder«, 1940/41) und ihr Mann Kurt Held, ebenfalls Jugendbuchautor (»Die rote Zora und ihre Bande«, 1941), fanden in Carona Zuflucht vor den Nazis und blieben bis zu ihrem Tod hier. Für eine kurze Zeit gastierte Bertolt Brecht mit seiner Frau Helene Weigel bei ihnen; das war 1933. Die beiden befanden sich ebenfalls auf der Flucht vor den Deutschen. Doch glücklich wurde der berühmte Dramatiker nicht in Carona, und schließlich urteilte er kurz und bündig: »Die Schweiz ist zu teuer, hat keine Städte und ist eine Theaterdekoration (ohne Bühnenarbeiter)« – und verzog sich ins dänische Exil. Aber auch ohne Brecht hat Carona das Attribut »Künstlerdorf« unbedingt verdient.
Weitere ungewöhnliche Historien und ebenso spannende Hintergründe sowie jede Menge reisepraktische Tipps finden Sie im Reiseführer »Tessin« von Marcus X. Schmid.