Der Michael Müller Verlag ist bekannt für seine reisepraktischen Handbücher. Neben Tipps von A bis Z gibt es auch witzige und absurde Themen, die während der Niederschrift eines Reiseführers ins Zentrum rücken. In jeder Ausgabe des Newsletters stellen wir Ihnen einen dieser Texte vor. Für die heutige Ausgabe hat Michael Machatschek ein 200-seitiges wissenschaftliches Werk auf Italienisch gewälzt – und einige historisch spannende und skurrile Tatsachen zusammengestellt. Oder wussten Sie, dass die venezianische Kurtisane, als Witwe verkleidet, in Kirchen auf Freierfang ging? Das Reisebuch »Venedig MM-City« ist in 5. Auflage 2010 aktuell erschienen.
Das älteste erhaltene Dokument in Venedigs umfangreichen Stadtarchiven, das die Existenz der Prostitution in der Lagunenstadt belegt, datiert von 1228. In diesem Schriftstück werden zwei Brüder, zwei reiche Kaufleute, aufgefordert, einem gewissen Angelo Bernardo den Mietvertrag für eines ihrer Wohnhäuser zu kündigen, weil dieser dort zusammen mit seiner Geliebten und einigen anderen Frauen ein kleines Bordell (Postribolo) betreibt. Mit Strenge und Unnachgiebigkeit trachtete Venedigs allgegenwärtiger Behördenapparat seinerzeit danach, die Ausbreitung der Prostitution einzudämmen.
Doch schon Anfang des 14. Jahrhunderts änderte sich die Grundhaltung zur öffentlichen Ausübung der Prostitution. Zunächst einmal tolerierten die zuständigen Behörden die Präsenz von Dirnen in den Osterie und Taverne des Rialtoviertels, wo sie ungestört auf Freierfang gehen durften. Praktisch, dass diese berüchtigten Gaststätten und Wirtshäuser im turbulenten Markt- und Handelszentrum der Stadt zumeist auch Zimmer vermieteten. Beabsichtigtes Ziel war es, dem horizontalen Gewerbe einen geeigneten und überschaubaren städtischen Raum zuzugestehen und die Prostitution vom übrigen Stadtgebiet fern zu halten. Außerdem hatte sich mittlerweile die Einsicht durchgesetzt, dass eine kontrollierte Prostitution dazu beitragen könnte, weitaus schlimmeren Übeln wie Vergewaltigung, Ehebruch, Sodomie und Homosexualität Einhalt zu gebieten.
Die offiziellen Bordelle im Rialtoviertel
1360 öffnete das erste offizielle Bordell Venedigs seine Türen, und das Rialtoviertel, wo sich das sogenannte Castelletto befand, entwickelte sich endgültig zum Rotlichtviertel. Halb privat und halb öffentlich geführt, stand das Freudenhaus unter der Aufsicht der Capi di Sestiere (Ordnungshüter eines Stadtviertels). Sie kassierten einen Teil der Monatseinnahmen, bezahlten die Hausmeister und führten die Miete an die Besitzer der Wohnblocks ab, bei denen es sich um die ortsansässigen Adelsfamilien Venier und Morosini handelte. Schwierigste Aufgabe für die Capi war es, zu verhindern, dass die herumschlendernden Prostituierten ihren streng reglementierten Aufenthaltsbereich zwischen dem Campo delle Beccarie und dem Campo San Cassiano verließen.
Genau ein Jahrhundert lang erfüllte das Castelletto a Rialto seinen Zweck, bis es 1460 durch ein größeres Bordell in der Calle delle Beccarie ersetzt wurde. Die Konzession für das neue Castelletto erhielt ein Stadtadliger namens Priamo Malipiero, der auch für die Einhaltung der erweiterten Vorschriften und umfangreichen Reglementierungen verantwortlich war. Beispielsweise galt es, die eingeführte Sperrstunde zu überwachen, die Kuppler vom Freudenhaus fern zu halten und das nach wie vor begrenzte Aufenthaltsgebiet der Prostituierten zu kontrollieren.
Kampf gegen Zuhälter und Syphilis
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts erreichte Venedig seinen wirtschaftlichen Höhepunkt und hatte sich in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu einer schillernden Metropole der Neuzeit entwickelt. Kein Wunder, dass in dieser Zeit auch die engen und strengen Grenzen des Rotlichtmilieus gesprengt wurden. Unaufhaltsam breitete sich die Prostitution in der ganzen Stadt aus. Per Dekret zum Sperrbezirk erklärt wurde lediglich die nähere Umgebung der repräsentativen Piazza San Marco.
Immigranten aus aller Welt strömten nach Venedig und durchmischten die Stadtbevölkerung heftig. Bunt und exotisch war auch das wachsende Heer der Prostituierten, die sich in Venedig niederließen. Sie boten ihre Dienste in den Osterien, Tavernen, Herbergen, Bädern und Privatwohnungen an. Alles schien perfekt venezianisch organisiert zu sein, wenn da nicht die parasitären Zuhälter gewesen wären, denen die Frauen nahezu schutzlos ausgeliefert waren, seitdem sie das Castelletto verlassen hatten. Erst als der Frauenhandel, die Gewalt gegen Frauen, Ausbeutung und Erpressung unerträgliche Ausmaße annahmen, reagierte eines der höchsten Organe der Stadt, der Consiglio dei Dieci, 1492 mit einem Gesetz, das alle Prostituierten für frei erklärte (Libere tutte le Meretrici) und alle Zuhälter (Ruffiani) aus der Stadt verbannte. – Das muss gewirkt haben.
Doch ein neuer Feind der käuflichen Liebe war bereits im Anflug – die Syphilis (il mal franzoso), die sich bald auch in Venedig ausbreitete. 1522 eröffnete im Sestiere Dorsoduro ein karitatives Krankenhaus für Syphiliskranke (Ospedale degli Incurabili). Bereits damals war eine medizinische Behandlung möglich, aber in diesen Genuss kamen nur wenige Erkrankte, während die meisten qualvoll starben. Dass die Prostituierten in der Hochzeit der Epidemie öffentlich beschimpft und zu Sündenböcken gemacht wurden, dürfte wohl niemanden wundern.
Die Kurtisane betritt die Bühne
Das revolutionäre Zeitalter der Renaissance prägte im 16. Jahrhundert auch das soziale und kulturelle Leben in Venedig. Die Künste und das Menschenbild verfeinerten sich, das Bildungsniveau und das Standesbewusstsein stiegen. Eine Zeit, in der die Kurtisane (Cortigiana), die Prostituierte mit Stil, die Bühne betrat. Längst war das Angebot an käuflicher Liebe so ausdifferenziert wie die venezianische Gesellschaft. Jeder konnte die Dame seines Begehrens finden, ob als Meretrice (Dirne), Puttana (Nutte), Compagnessa (Begleiterin) oder anders bezeichnet. Doch über allen schwebte die Kurtisane, der Inbegriff der kultivierten Hure mit dem besonderen Merkmal der gesellschaftlichen Anerkennung. Nur in Venedig – hieß es damals sogar in Paris – genoss die Kurtisane die gleichen Freiheiten wie die Künstler.
Ausdruck des gehobenen Niveaus der venezianischen Prostitution waren neben einer aufwendigen Garderobe und eines extravaganten Lebensstils auch die phantasievollen Praktiken des Kundenfangs. Beispielsweise ist überliefert, dass die Elite der Zunft sich spezielle Gondeln mit Alkoven (Bettnischen) anfertigen ließ, um damit auf dem Canale della Misericordia Ausschau nach Freiern zu halten. Andere Damen bevorzugten es, als trauernde Witwen verkleidet, ihre Freier in den Kirchen der Stadt zu suchen. Zur Schattenseite dieser wahnwitzigen Realität gehörten jedoch Armut und Elend unter den Prostituierten; vorbildlich waren hingegen Frauenhäuser, in denen ausgestiegene Dirnen aufgenommen und resozialisiert wurden. Zeitgleich schützte man in den Waisenhäusern der Stadt gefährdete Mädchen vor dem Einstieg in die Prostitution.
Ausgerechnet im 17. Jahrhundert, der Zeit barocker Prachtentfaltung, zügelloser Feste und überschwänglicher Salonkultur, begann die Moralgesetzgebung wieder zu greifen und der Glanz der venezianischen Kurtisane zu verblassen. Sie verlor ihre gesellschaftliche Akzeptanz. Verbote schränkten ihre Bewegungsfreiheit und ihr luxuriöses Auftreten erheblich ein – zur Freude der venezianischen Adelsfrauen und vornehmen Damen.
Karnevalesker Rausch
Im 18. Jahrhundert herrschte eine seltsam ausgelassene Atmosphäre in Venedig. Das unvermeidliche Ende der Adelsrepublik versetzte die Stadt und ihre Bewohner paradoxerweise in einen karnevalesken Rauschzustand. Dekadente Ausschweifungen waren an der Tagesordnung und die allgegenwärtige Prostitution erreichte eine nie geahnte Selbstverständlichkeit. Es war die Zeit Giacomo Casanovas. Die sprichwörtliche Sittenlosigkeit Venedigs erregte die Gemüter in ganz Europa. Selbst der viel gereiste Goethe muss große Augen bekommen haben, wie es seine erotisch stark aufgeladenen Venezianischen Epigramme verraten.
Verwendete Literatur
Autor: Giovanni Scarabello
Titel: Meretrices. Storia della prostituzione a Venezia tra il XIII e il XVIII secolo.
Verlag: Supernova Edizioni, Venezia Lido, 2008, 203 S., 30 €.
Wussten Sie außerdem, dass in Venedig das erste Ghetto Europas entstand, im Arsenale, der venezianischen Werft, ein Kriegsschiff innerhalb eines Tages zusammengesetzt werden konnte, eine milliardenteure Flutbarriere namens MOSE Venedig vor dem Untergang retten soll, die Venezianer ein ausgesprochen weinseliges Völkchen sind oder einige der großen Palazzi am Canal Grande manchmal schwanken wie ein Schiff?
Antworten und jede Menge reisepraktische Tipps finden Sie im Reiseführer »Venedig MM-City« von Michael Machatschek.