Ein Graffiti (»Kosovo ist das Herz Serbiens«) hat es Achim Wigand angetan. Um des Volkes Meinung zu prüfen, ließ er sich für zwei Tage durch den Zwergstaat treiben. Weshalb unser Autor dafür eine neue Kfz-Versicherung abschließen musste, wieso er nicht in ein UNESCO-Weltkulturerbe gelassen wurde und wie das Bier im Kosovo eigentlich schmeckt, waren die Brosamen der Recherche. Währenddessen stellte sich Wigand, der im benachbarten Montenegro die 2. Auflage seines gleichnamigen Reiseführers aktualisierte, immer wieder die eine Frage: Ist Kosovo in Serbien wirklich angekommen?
»Πpabдa зa Ypoшa!« oder »Freiheit für Uroš!« ist das derzeit häufigste Graffiti an Häuserwänden im Großraum Belgrad. Wer Uroš ist und warum es ihm an Freiheit mangelt? Irgendwas mit Fußball, egal. Politisch relevanter und historisch kribbliger ist die Nummer 2 der Sinnspruchhitliste auf serbischem Mauerwerk: »Kosobo je cpцe Cpбиje!« – der (wahlweise auch ›das‹, die Konvention ist nicht einheitlich) »Kosovo ist das Herz Serbiens«. Ohne jetzt in einer bis kurz vor der Militanz umstrittenen Frage Stellung beziehen zu wollen: identitäts- und kulturgeschichtlich ist da schon etwas dran. Um dem Phänomen und Dauerzwist auf den Grund zu gehen, bin ich einmal hingefahren.
Mit neuer Kfz-Versicherung zum UNESCO-Weltkulturerbe
Ist nämlich nicht weit: Montenegro (wo ich gerade für die 2. Auflage 2010 recherchiere) und der Kosovo haben eine gemeinsame Grenze, und schon auf der montenegrinischen Seite dominiert zahlenmäßig eindeutig die albanische Ethnie. Es existiert ein kleiner Grenzverkehr – junge Bürger des kleinen Rožaje (MNE) pendeln zum Studium in die benachbarte, naja, Großstadt Pec (KOS, albanisch: Peja). Für den Weg ins Kosovo muss man zunächst einmal individuell mobil sein (ob vielleicht doch ein Linienbus fährt, kann ich zumindest nicht völlig ausschließen). Falls das gewählte Fortbewegungsmittel muskelgetrieben ist, empfiehlt sich bärige Konstitution: Montenegro verabschiedet sich so, wie man es auf dem Weg durchs Hinterland kennengelernt hat – sehr bergig.
Auf dem 1.849 m hohen Kulla-Pass die Grenzstation und eine teure Überraschung: Der eilig (mancher meint gar: hastig) und unvollständig anerkannte Neustaat ist wohl den internationalen Assekuranzabkommen noch nicht beigetreten und deshalb muss eine Kfz-Versicherung abgeschlossen werden; Kostenpunkt deftige 50 €. Der EU-Steuerzahler in mir rebelliert: als ob dieses fragile Gebilde Kosovo nicht sowieso fast ausschließlich von den Finanzinjektionen aus EU-Töpfen am Leben erhalten wird. Wieso noch mal zahlen?
1.500 Höhenmeter weniger ist man dann, frisch versichert, auch geografisch im Kosovo – das Amselfeld (serb. kosovo von kos: die Amsel) ist mehr Feld als Amsel, nämlich flach. Und vor allem: zersiedelt. Mancher deutsche Häuslebauer mag etwas empfindlich auf die Worte »Bauordnung« und »Stadtbebauungsplan« reagieren, aber was passiert, wenn so etwas überhaupt nicht existiert, sieht man hier in aller Schrecklichkeit. Gegen die Kleinst- und Großbaustellen einfach überall hat die ohnehin reizarme Landschaft keine Chance. Auch die erste größere Ansiedlung, das schon erwähnte Pec, macht das Land nicht schöner, eher im Gegenteil. Ein völlig wirr aufgeschütteter Haufen aus Backsteinen und Stahlbeton, gänzlich charmebefreit und mit infernalischem Verkehrsaufkommen. Ich allerdings bin tatsächlich in kunsthistorischer Mission unterwegs, hier nämlich steht das Patriarchenkloster, ein Bauwerk im UNESCO-Weltkulturerberang.
Most-most-most-most-most-most-wichtige Klöster und die längste Ortsdurchfahrt meines Lebens
Jetzt muss man über serbisch-orthodoxe Klöster ganz allgemein wissen: Sie sind alle wichtig, die meisten sogar am wichtigsten. Einige davon sind ganz besonders am wichtigsten und in dieser absurden Steigerung geht es weiter bis zum »most-most-most-most-most-important« Kloster. Das eben ist die pecka patrijaršija, das Patriarchenkloster von Pec. Davon merkt man im Stadtbild bzw. Gewusel aber nix: Kein Schild, keine Tafel, nichts. Fragen traut man sich auch nicht so recht – da war doch was mit Serben und Kosovaren …
Mit Hilfe von satellitengestützter Navigation und nach zwei Stunden im Schritttempo auf vollen und staubigen Straßen habe ich es dann doch gefunden: Malerisch eingerahmt von mehreren Rollen Natodraht, bewacht von einem Zug KFOR-Soldaten (genau: da war bestimmt was zwischen Serben und Kosovaren!) liegt es am westlichen Ende der Stadt, wo schon wieder die Berge zum montenegrinischen Nachbarn anfangen. Geöffnet für den Gläubigen- und Besucherverkehr ist es täglich von 10 bis 18 Uhr. Jetzt ist es leider 18.03 Uhr und der italienische Friedenstrüppler schickt mich weg. Notgedrungen schalte ich in den Ignorantenmodus: Dann eben kein Weltkulturerbe und überhaupt, die serbisch-orthodoxen Kirchen sehen ja eh alle gleich aus! Aus den gleichen Gründen verzichte ich auch auf einen Besuch des Klosters Decani einige Kilometer weiter südlich und mache mich auf den Weg in die südliche Ecke (sind trotzdem nur 60 km, der Kosovo ist gerade einmal doppelt so groß wie das Ruhrgebiet) des Landes, nach Prizren. Das soll schöner sein und außerdem lebte dort zu jugoslawischen Zeiten die einzige türkische Minderheit des Tito-Empires, ein letztes Relikt aus osmanischen Zeiten.
Nach der längsten Ortsdurchfahrt meines Lebens – die Siedlungstätigkeit ist beinahe lückenlos, s. o. – stellt sich dann heraus: Es ist schöner, ziemlich schön sogar und wenn es nicht just beim Parken meines Autos angefangen hätte zu gewittern, wäre ich bestimmt noch auf die hoch über der Stadt thronende Festung gestiefelt und hätte endlich Fotos von diesem Ausflug gemacht – allein im Auto und mit etwas Zeitdruck ist das wie immer knifflig (zumal auch MENSCHEN auf den Bildern sein MÜSSEN, und bei Gewitter, naja … siehe »Ich packe meinen Koffer und lasse liegen …«).
Respekt, Vogelpark Walsode!
In der ziemlich winkligen Altstadt – Bosnienerfahrene denken an die orientalisch geprägte Altstadt von Sarajevo mit dem bašcaršija-Platz – findet sich neben ganz vielen Kirchen dreier doch sehr unterschiedlicher Konfessionen (katholisch, muslimisch, serbisch-orthodox) tatsächlich eine kleine Frühstückspension. 25 € pro Nacht wirken angesichts der vermuteten ökonomischen Gebrechlichkeit der Region ziemlich überhöht, aber wenigstens spricht der Junge an der improvisierten Rezeption ganz gut Englisch und enthebt mich vorläufig eines kniffligen Problems: Was macht hier der nicht Albanophone? Es überall mit Deutsch oder Englisch versuchen? Funktioniert beides zu schlecht. Das sehr elementare Serbisch ausprobieren? Versteht ziemlich sicher jeder über 15, aber ich erinnere mich da an den einen oder andern Vorfall mit Serben und Kosovaren … Bis zum Essen habe ich Schonfrist, einstweilen freue ich mich am fixen WLAN-Access in der freundlichen, mutmaßlich teuren Pension.
Nix mutmaßlich, es ist teuer. In einer qebaptore, i. e. eine dieser unerhört qualmenden Grillbuden, die qebap, Kebap oder eben cevape (alles die gleichen würzigen Hackfleischröllchen) servieren, esse ich: Spieße mit Lammnieren und Leber, Rindfleischstreifen und eben qebap; eine Gewaltportion der Größenordnung »ausgehungerter Skipetar«. Für weniger als 5 €, übrigens die offizielle Landeswährung, inklusive 3 Flaschen ortsgebrauten Biers. Nebenbei löse ich das Sprachproblem, ein freundlicher älterer Herr erkennt an meinem hesitativen Auftritt pure Ratlosigkeit und bietet mir ein Bündel von Sprachen und seine Hilfe an. Ich kreuze »Deutsch« an und bekomme eine Einführung in die Stadtkultur Prizrens mit norddeutsch spitzem »s«. 30 Arbeitsjahre in Niedersachsen – »Vogelpark Walsrode, kennste doch« sagt er immer wieder –, deutsche Staatsbürgerschaft und Rentenanspruch gab’s eben nicht umsonst. Mit manchen Gästen der Imbissbude spricht er Albanisch, mit anderen Türkisch (es gibt sie noch, die Minderheit!) und ressentimentfrei sogar Serbisch. Respekt, Vogelpark Walsrode, vier richtig schwierige Sprachen!
Kulturell und körperlich gestärkt, wage ich mich noch einige Stunden ins hiesige Nachtleben, es ist Samstag und richtig viel los. Am Ende habe ich eine kosovarische Telefonkarte – irgendein Promotion-Gag – einen im Tee und vermutlich bald Kopfschmerzen: Bier für weniger als 1 € und krachende Live-Musik oder nicht minder krachender Balkanpop werden Spuren hinterlassen.
Eine Geburtenrate weit unterhalb der Reproduktionsgrenze
Am nächsten Morgen ist alles gar nicht so schlimm. Das lokale Bier schmeckt nicht nur ganz gut, sondern ist anscheinend auch recht sauber gebraut. Auf nicht ganz so trostloser Strecke mit einigen Hügeln ohne Ketten unfertiger Häuser über Priština (Hui! Ist das groß!) und Kosovska Mitrovica fahre ich zurück nach Serbien. Auf einer kleinen Brücke hinter Mitrovica befindet sich offenbar eine ethnische Induktionsschleife: Schlagartig wechselt die Beflaggung am Straßenrand vom schwarzen Albaneradler (die offizielle blau-gelbe Flagge des Kosovo ist praktisch nirgends zu sehen, ein eigentümliches Statement der Unabhängigkeit) auf Rot-Blau-Weiß-Serbisch. Die UCK-Denkmäler, bis dahin ein steter Begleiter, weichen dem serbischen Kreuz mit den auswärts gedrehten »c«. Kein einziges Autokennzeichen des Kosovo (zwei dreistellige Zahlen, getrennt durch KS) ist mehr zu sehen, die örtlichen Autos tragen ausschließlich serbische Nummern. Ins übrige Kosovo traut sich damit kein Privatfahrzeug. Der Sprit kostet auf einmal nur noch 60 Cent bzw. 65 Dinar: Weder verwendet man hier die Ersatzwährung, noch zahlt man an den als illegitim empfundenen Staat Steuern. Außerdem wirkt es nach dem Gewimmel auf den Straßen des Landes sehr ruhig. Nein: Es wirkt gespenstisch und verlassen und das ist es wohl auch. Hinter Mitrovica sinkt die Geburtenrate von weit über 3 Kindern pro weiblichem Bürger (übrigens: Weltrekord) auf einen Wert weit unterhalb der Reproduktionsgrenze. Der Exodus ist fast greifbar, die Gesamtstaatlichkeit der albanischen und serbischen Landesteile entlarvt sich schon beim Blick aus dem Autofenster als ein Märchen aus Kommissionen in Brüssel und im State Departement.
»Cpцe Cpбиje«? Entweder irrt sich da jemand im Körperteil oder es muss dringend ein Heer von Koronarspezialisten her. Wofür steht noch mal das ›K‹ in KFOR?
Aber: Wenigstens Tanken macht wieder Spaß.